mess.bar

Neujahrsvorsatz

Wer einen Fitnesstracker gekauft hat, um im neuen Jahr ein besserer Mensch zu werden und sich mehr zu bewegen, sollte den Kassenzettel aufheben: Möglicherweise erfüllt die Neuanschaffung nicht alle Erwartungen.

Das Pendeln an die Technische Universität Chemnitz und eine Selbstbeobachtung hat Christiane Attig inspiriert, die kleinen Schrittzähler zu erforschen. Mit der Hightech-Uhr am Handgelenk neigte sie dazu, durch das Treppensteigen am Bahnhof ihre Schrittzahl zu erhöhen. Wenn sie dagegen den Tracker vergessen hatte, nahm sie eher die Rolltreppe.

Lange bevor es Rolltreppen oder Fitnesstracker gab, erörterte der römische Philosoph Lucius Seneca die Frage, ob wir für die Schule oder fürs Leben lernen. Fast 2000 Jahre später geht es darum, ob wir uns für die Gesundheit oder für den Fitnesstracker bewegen. Ungezählte Schritte erscheinen manchen Läufer*innen weniger wertvoll zu sein.

Selbst wenn menschliche Versuchskaninchen von den wissenschaftlichen Kaninchendresseur*innen darauf hingewiesen werden, wie nutzlos Belohnungspunkte sind, lassen sie sich trotzdem von nutzlosen Punkten zu mehr Engagement für nutzlose Aufgaben motivieren. Jordan Etkin von der Duke University in Durham stellte jedoch fest, dass die Quantifizierung auch demotivieren kann, da Freizeitbeschäftigungen dadurch wie Arbeit wirken. 

Wer sich sowieso gerne bewegt, nutzt den Tracker eher zur Information, um die eigene Leistungsentwicklung zu messen und das Training zu optimieren. Andere trotten ihre täglichen Schritte dagegen lustlos ab und erhoffen sich von ihrem Tracker Motivation für diese lästige Pflicht. Doch ausgerechnet sie werden mit höherer Wahrscheinlichkeit durch ihn demotiviert. 

Der französische Soziologe Loïc Wacquant beklagt, dass Wissenschaftler*innen häufig ohne emotionalen oder physischen Bezug zu ihren Themen forschen. Das kann man Carl Cederström und André Spicer nicht vorwerfen.

In ihrem Buch »Auf der Suche nach dem perfekten Ich. Ein Jahr in der Selbstoptimierungsindustrie« beschreiben die beiden Professoren ihr schonungsloses Selbstexperiment, das die ersten 1000 Nachkommastellen von Pi und den Erwerb der französischen Sprache ebenso beinhaltet wie das nackte Tanzen beim Männercamp im Wald (hierzu gibt es noch keinen Beitrag auf lehr.bar).

Auch der Fitnesstracker darf nicht fehlen: »Ich war einer von vierzig Millionen, die diese Fitness-App benutzen. Aktivität beendet, sagte eine Frauenstimme und teilte mir die genaue Strecke und Zeit mit. Eine Meldung erschien auf dem Bildschirm und fragte mich, ob ich ein Foto machen wolle. Warum nicht? dachte ich. Die App fragte: Möchtest du deinen Lauf mit deinen Freunden teilen? Nein danke, erwiderte ich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich meine Freunde über meine Fitnessaktivitäten auf dem Laufenden halten wollten.«

Der Austausch und Wettbewerb mit laufbegeisterten Freund*innen kann tatsächlich der Motivation dienen, nur bricht diese Motivation weg, sobald die Freund*innen ihr Hobby wechseln – oder auch nur die App, so dass die Daten nicht mehr kompatibel sind.

Für manche sind die reinen Zahlen Anreiz genug, ganz ohne soziale Aspekte. Allerdings kann sich auch dieser Effekt umkehren: Ohne Tracker bleiben sie lieber untätig, denn dann wissen sie wenigstens, dass sie keinen Schritt gelaufen sind und keine Kalorien verbraucht haben. Diese Sicherheit ziehen sie der Ungewissheit einer ungemessenen Leistung vor.

Das Tracken sei laut Carl Cederström und André Spicer typisch für den Zeitgeist:

»Sich selbst zu beobachten, als wäre man ein Geschäft, passt perfekt in das Leben dessen, den Philip Mirowski ›den idealen neoliberale Akteur‹ genannt hat. Diese Person weiß wahrscheinlich gar nicht, dass sie neoliberal ist, denn für sie ist Politik weniger interessant als die Arbeit an ihrem Körper und die Verbesserung ihres Selbst. Für den neoliberalen Akteur ist der Körper nicht mehr etwas Persönliches. Er ist nicht einmal politisch. Stattdessen ist er ein Unternehmen, das sorgfältige Beobachtung und Optimierung benötigt, um einen höchstmöglichen Ertrag zu erzielen.«

Wir freuen uns auf Anregung und Empfehlungen von Lehrenden und Lernenden (wer ist das nicht?!) per Mail oder einfach hier im Kommentarfeld.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert