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Erzählkunst
Der achtjährige Dillon Helbig aus Idaho gab sich viel Mühe mit seiner Weihnachtsgeschichte: Er recherchierte, schrieb von Hand 88 Seiten in ein kartoniertes Heft und illustrierte mit seinen Buntstiften das Abenteuer vom explodierenden Weihnachtsstern, einem gefräßigen Riesentruthahn und einer Zeitreise durch die Jahrhunderte. Als ihn seine Großmutter in die benachbarte Bibliothek mitnahm, schmuggelte er dort heimlich sein Werk in ein Bücherregal. So hoffte er auf Leserinnen und Leser.
Einige Tage später war das Buch verschwunden. Dillons Eltern befürchteten, es wäre weggeworfen worden. Doch wo ist ein Buch besser aufgehoben, als in einer Bücherei? Die Angestellten waren so begeistert von »The Adventures of Dillon Helbig’s Crismis by Dillon His Self«, dass sie das kleine Buch katalogisierten und dadurch eine Ausleihe ermöglichten. Schnell wuchs die Warteliste auf über hundert Interessierte. Alex Hartmann von der Ada Community Library in Lake Hazel hofft, dass Dillons Idee viele Kinder zum Schreiben inspiriert und ermutigt, ihre Geschichten mit anderen zu teilen. Dillon His Self schreibt bereits an einer Fortsetzung über seinen Hund Rusty.
Ein 88seitiges Buch ist eine außergewöhnliche Leistung für einen Achtjährigen. Seine eigenwillige Rechtschreibung deutet darauf hin, dass er den Text ganz ohne Hilfe geschrieben hat.
Der Autor Andreas Steinhöfel wird nach den Reaktionen seiner jugendlichen Leserinnen und Leser gefragt: »›Wie kommst Du auf Deine Ideen‹, ist die meistgestellte Frage und leider nicht eindeutig zu beantworten. Meine Leser schicken mir auch ihre Bücher – ein bis zwei Din-A4-Seiten. Wenn ich schreibe, dass das aber ein kurzes Buch sei, kommt häufig als Antwort, ›die Idee war alle‹. Das finde ich echt süß!«
Nicht nur Kinder hoffen, dass sich mit der richtigen Idee ein Buch quasi von selbst schreibt. Auch viele Erwachsene glauben eher an Talent und Inspiration als an Schreibtechnik. Dadurch bleiben vielversprechende Texte ungeschrieben.
Kinder mit sportlichen oder musikalischen Ambitionen erhalten zahlreiche Möglichkeiten, sich zu verbessern und das Erlernte anzuwenden und vorzuführen. Die Literaturwissenschaftlerin Pia Helfferich bedauert: »Weil ich auch Schreibworkshops für Kinder und Jugendliche leite, erhalte ich immer mal wieder Anfragen von Eltern, die festgestellt haben, dass ihre Kinder gerne schreiben und die nun wissen möchten, wie sie ihre Kinder dabei unterstützen können. Verglichen mit Sport und Musik ist die Infrastruktur für schreibinteressierte junge Menschen noch immer dürftig.«
Gerade beim Schreiben ist eine Rückmeldung hilfreich. Ein sportliches Kind erkennt selbst, dass es schneller rennt oder weiter springt als andere und ob es sich durch Training verbessert. Viel schwieriger ist es, die eigenen Texte objektiv einzuschätzen.
Von der Persönlichkeit der Kinder hängt es ab, ob sie andere bei Schreibwettbewerben besiegen wollen, ihre Texte gerne auf einer großen Bühne vortragen möchten, ob ihnen der Austausch in einer kleinen Gruppe lieber ist oder ob sie die Texte nicht vorlesen, sondern Leserinnen und Lesern schriftlich zur Verfügung stellen möchten wie Dillon Helbig.
Stephen King sieht als Vorteil von Schreibkursen: »Dort wird der Wunsch, Prosa oder Lyrik zu verfassen, ernst genommen. Das ist etwas ganz Wunderbares für aufstrebende Schriftsteller, die bis dahin von ihren Freunden und Verwandten nur mit herablassendem Mitleid betrachtet wurden. Wo, wenn nicht in Schreibkursen, ist es denn sonst erlaubt, einen großen Teil der Zeit in seiner kleinen Traumwelt zu verbringen? Vielleicht erlernen Sie dabei nicht die magischen Geheimnisse des Schreibens (es gibt keine – so ein Mist, was?), aber Sie werden mit Sicherheit eine Menge Spaß haben.«
Kinder brauchen nicht nur Bücher, wie Bruno Bettelheim fordert. Sie brauchen auch Unterstützung beim Schreiben. Und vielleicht sind in anderen Büchereien weltweit nette Kolleginnen und Kollegen von Alex Hartmann ebenfalls bereit, ein Bücherregal für schreibbegeisterte Kinder zur Verfügung zu stellen.