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Spannungsbogen

Ausgerechnet den Horrorautor Stephen King nach einer Empfehlung für Kinderbücher zu fragen, ist gewagt – und seine Antwort kontrovers: »Stephen King wurde einmal kritisiert, dass er ein Kinderbuch empfahl, in dem eine Katze wegläuft und nicht mehr wiederkommt. Dazu sagte er, dass man Kindern nun einmal beibringen müsse, dass Katzen manchmal nicht wiederkommen. So sei nun einmal die Realität. Und er sagte, dass Kinder mit schlechten Nachrichten sehr viel besser umgehen können, als Erwachsene oft meinen.«

Diese Begebenheit zitiert Veit Etzold in seinem Buch »Der weiße Hai im Weltraum. Storytelling für Manager.« Auch der Thrillerautor schreibt nicht unbedingt kindgerecht. »Damals im Religionsunterricht sagte ein Teilnehmer, dass die Welt recht langweilig geworden wäre, wenn Adam und Eva nicht in den Apfel gebissen hätten. Auch wenn der Pastor diese Erkenntnis nicht unbedingt teilte, ist ein geruhsamer Garten Eden, in dem sich alle wohlfühlen, sicher nicht das Setting für packende Storys.«

Bruno Bettelheim verfasste ein Plädoyer gegen nichtssagende Fibeltexte und nannte es »Kinder brauchen Bücher: Lesen lernen durch Faszination«. Auch darin spielt eine polarisierende Katze eine Rolle:

»Ich war am Rande an einem Experiment beteiligt, eine attraktivere Fibel für die erste Klasse herauszubringen. Wir versuchten, eine der Geschichten dadurch interessanter zu machen, dass wir eine kleine Kindertragödie erzählten. Die Kinder haben auf dem Jahrmarkt einen Luftballon bekommen. Sie nehmen ihn mit nach Hause, wo die Katze draufspringt und er zerplatzt. Das kam uns recht harmlos vor; aber als ein Schulsystem in Illinois das Buch, bevor es serienmäßig hergestellt wurde, prüfte, erhoben die Katzenfreunde von Illinois einen wütenden Protest: die Geschichte verunglimpfe die Katzen, sie nehme die Kinder gegen die Tiere ein, und so weiter. Man drohte mit einem Feldzug gegen den örtlichen Schulinspektor, der sich bald wieder zur Wahl stellen wollte. Er hielt es für geraten, das Buch zurückzuziehen. Der Verleger, der ähnliche Rückschläge für seine Serie fürchtete, beschloss, nur noch Geschichten zu bringen, gegen die niemand etwas einwenden konnte.«

Die Banalität der Texte beeinträchtige laut Bettelheim die Lesemotivation der Kinder: »Ein Hauptunterschied zwischen den Kindern, die sich zu Hause das Lesen beibringen, und denen, die es erst in der Schule lernen, ist der, dass erstere das Lesen anhand von Texten lernen, die sie interessieren, während die anderen dadurch lesen lernen, dass man ihnen das Entziffern und Erkennen von Wörtern anhand von Texten einpaukt, deren Inhalt so banal ist, dass er geradezu eine Beleidigung für die Intelligenz der Kinder darstellt.«

Doch wodurch werden Geschichten lesenswert? Der Schriftsteller Raymond Hull stellte eine simple Formel auf:

Hauptfigur + deren Ziel + Opposition = Konflikt

Ob sich Spannung so einfach aufaddieren lässt oder nicht – Protagonist*innen im Glück haben es schwer. Konfliktfreie Bilderbuchmenschen im Paradies unter wolkenlosem Himmel sind sogar der Regenbogenpresse zu seicht.

Marc-Uwe Kling erdichtete eine solche Bilderbuchwelt für den Beginn seines Bilderbuchs »Das NEINhorn«:

»Alle Steine sind aus Plüsch und rosarot!
Zum Essen gibts immer nur Kekse statt Brot. 
Und seit eine kleine Fee mal Hunger hatte, 
sind die tief fliegenden Wolken aus Zuckerwatte.«

Auch das neugeborene Einhorn ist süß wie Zuckerwatte, doch sein Lieblingswort ist… NEIN. Die Bilderbucheinhornfamilie reagiert irritiert und versucht, ihm die rosarote Bilderbuchwelt schönzureden:

»Willst du, anstatt immer zu quengeln, 
mit mir und den weichen Knuddel-Engeln,
die immer so schön glockenhell lachen,
auf einem Kuschelwölkchen Mittagsschlaf machen?«

Die Antwort lautet natürlich NEIN. Seine stets gutgelaunte Verwandtschaft staunt über das bockige Einhorn, bis es ihnen erklärt: 

»Ach, euer Lächeln, das ist euch doch ins Gesicht geleimt!
Und mich nervt auch, dass sich jeder Satz hier immer reimen muss.«

Ob das Einhorn anschließend wegläuft und nicht mehr wiederkommt, wird nicht verraten. Der Rest des Buches ist jedenfalls ungereimt.

Eine Rezension klagt: »Von Seite zu Seite hoffte ich, dass die Geschichte irgendwie noch gut oder positiv wird, aber nix da. Eine Moral gibt es sowieso nicht.«

Das NEINhorn wäre begeistert:

»Willst du eine herzensgute Moral?«
»NEIN!«

Dass auch Stephen King in seinen Büchern aufs Moralisieren verzichtet, überrascht nicht: »Was ich mir am meisten wünsche, ist Resonanz; das Buch soll ein wenig in den Gedanken (und im Herzen) des treuen Lesers nachklingen, wenn er es wieder geschlossen und zurück ins Regal gestellt hat. Das will ich erreichen, ohne dem Leser eine Botschaft einzutrichtern.«

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