streit.bar
NaNoWriMo Tag 4
Eine fiktive Figur wird erst lebendig, wenn man sie auf die Probe stellt. Ihre Reaktion auf Hindernisse und Konflikte macht sie unverwechselbar. James N. Frey schreibt kategorisch: »Die drei wichtigsten Regeln für eine spannende Geschichte: Konflikt! Konflikt! Konflikt!«
Konflikte entstehen nicht nur zwischen Personen, sondern auch zwischen einer Person und… vielleicht einem Fisch? Das mag nicht unbedingt eine naheliegende Besetzung für den Antagonisten sein, aber es kommt darauf an, dass die Wünsche einer Figur auf Widerstand treffen. Je mehr auf dem Spiel steht und je unnachgiebiger beide Seiten sind, desto explosiver wird das Drama. Und Fische sind ja für ihre Sturheit berüchtigt.
Für dieses sogenannte »Oppositionsprinzip« stellte der Bühnenautor Raymond Hull sogar eine imponierende Formel auf:
H + Z + O = K
Hauptfigur + deren Ziel + Opposition = Konflikt
Wie sehr auch immer sich die Protagonist*innen bemühen, ihre Probleme zu lösen und ihre Ziele zu erreichen – die Antagonist*innen setzen ihnen die gleiche Stärke und Ausdauer entgegen. Und beide Seiten handeln aus nachvollziehbaren Beweggründen: »Der alte Mann will den großen Fisch fangen. Der große Fisch will lieber im Meer bleiben.« So beschreibt James N. Frey den Konflikt in Ernest Hemingways Kurzroman »Der alte Mann und das Meer«. Ein Unentschieden ist undenkbar, und davonlaufen kann auch niemand. Oder davonschwimmen. Die Hauptfiguren sind quasi aneinandergekettet.
Wenn die Notwendigkeit fehlt, den Konflikt fortzusetzen, werden sich Leser*innen fragen: »Warum kündigt er nicht?« oder »Warum lässt sie sich nicht scheiden?« Dann wirkt der Konflikt konstruiert und unglaubwürdig.
Allerdings kann das Hindernis auch in der Figur selbst liegen: Schuldgefühle, Angst, Pflicht, Skrupel oder Zweifel führen zum inneren Konflikt, machen die Figuren interessant und erleichtern es den Leser*innen, sich in sie hineinzuversetzen. »Eine Figur kann sich in der erbärmlichsten Notlage der Literaturgeschichte befinden: wenn sie keinen inneren Konflikt austrägt, dann ist Mitleid die einzige Gefühlsreaktion, die der Autor vom Leser erwarten kann.« Mitleid mit dem Fisch ist es jedoch, das den inneren Konflikt des alten Mannes verursacht und ihn dadurch vor dem Mitleid der Leser*innen bewahrt. Andernfalls wäre Hemingways Klassiker nur eine Abenteuergeschichte: »Die Abenteuer vom alten Mann und dem Fisch.« Da hilft dann nicht mal mehr die ausgeklügelte Formel.
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