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Dürfen

Der Schriftsteller Heinrich von Kleist verfasste einen Aufsatz mit dem Titel »Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden«. Auch beim Schreiben verfertigen sich Gedanken allmählich und bleiben außerdem für die Zukunft erhalten.

Silvia Herdeg und Adrian Tuchschmid bieten Schreibwerkstätten an, für Menschen, die sie als »schreibungewohnt« bezeichnen. Ihr Ziel ist nicht, dass die Teilnehmenden anschließend fehlerfrei schreiben können, sondern dass sich »Lesen und Schreiben vom Bewertungsinstrument ihrer Person zum Ausdruck ihrer Person wandelt: vom Feindlichen zum Freundlichen, vom Fremden zum Eigenen.«

In ihrem Buch »Lesen und Schreiben für Erwachsene« schildern sie ausgeklügelte Verschleierungstechniken – wie jemand beispielsweise seine gesunde Hand verbindet, um eine Verletzung vorzutäuschen und nicht schreiben zu müssen. Dadurch schützen sich die Scheinverletzten vor demütigenden Reaktionen, aber ihnen entgehen auch neue und lehrreiche Schreiberfahrungen.

Selbst mit fehlerhafter Rechtschreibung lassen sich stilistisch und inhaltlich anspruchsvolle Texte schreiben. Einige rechtschreibschwache Menschen gewöhnen sich jedoch einen eingeschränkten Stil an, um Fehler zu vermeiden. Andere verzichten ganz aufs Schreiben. Dadurch bleibt viel Wertvolles unausgedrückt.

Wenn jemand zögert, die eigene Schreibfähigkeit zu verbessern, fehlt nicht unbedingt der Wille, und auch die Bedeutung der Schriftsprache ist durchaus bewusst. Negative Lernerlebnisse können im Weg stehen. »Begeben sich Menschen mit Lese- und Schreibstörungen in neue Lernsituationen, werden alte Gefühle aus früheren Lernerfahrungen aktualisiert. Dies erschwert massiv die Aneignung neuer Inhalte. Moderne Lerntechniken verpuffen oft an nicht nachvollziehbaren inneren Widerständen, was zu Frustration und zusätzlichen Versagensgefühlen führt.«

Diesen Erfahrungen setzen Silvia Herdeg und Adrian Tuchschmid zum Einstieg eine Schreibübung entgegen, bei der die Erinnerung an ein positives Lernerlebnis geschildert wird, das Freude und Stolz auslöste. Eine wohlwollende Umgebung hilft dabei, das Selbstkonzept zu verbessern: »Kollegen und Kolleginnen zeigen meistens eine großzügigere Haltung. Die fremde Sicht von außen ist häufig positiver und wesentlich realistischer als die verbogene Selbsteinschätzung. Wenn Kollegen sich unvoreingenommen zu positiven Fähigkeiten äußern, kann dies einen nachhaltigen Prozess auslösen.«

Und die Fehler? In der Schreibwerkstatt werden handschriftliche Texte nicht korrigiert. Die Teilnehmenden erhalten ihre Texte im Original zusammen mit einer fehlerfrei abgetippten Fassung zurück. Sie entscheiden selbst, mit welchen Rechtschreibstrategien sie sich beschäftigen wollen und wie pingelig oder großzügig sie auf Fehler reagieren – passend zum Motto von Silvia Herdeg und Adrian Tuchschmid: »Nur wer nichts macht, macht keine Feeler.«

Soisses!

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