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Prokrastination
Wer aufschiebt, wird zur Zielscheibe von Spott und Kalauern. »Vor einem Jahr bin ich der Selbsthilfegruppe Prokrastination beigetreten, aber wir haben uns noch nicht getroffen.« Haha.
Eingefleischte Aufschieber*innen finden das gar nicht lustig. Was wie eine schlechte aber harmlose Angewohnheit wirkt, kann Studienpläne durchkreuzen und Berufslaufbahnen zerstören. Dass gerade in der Schule und im Studium das Aufschieben floriert, erstaunt nicht: Selbstbestimmtes Lernen trifft dort auf vage Vorgaben für einschüchternde Prüfungen.
Manchmal wird Prokrastination mit Faulheit verwechselt, denn das beobachtbare Verhalten ähnelt sich. Die Selbsthilfegruppe für Aufschieber*innen besuchen jedenfalls beide nicht. Der Faule würde sich aber gar nicht erst anmelden, denn er will viel lieber seine Ruhe haben. Aufschieben ist dagegen ein aktives Vermeiden, und dieser Aktionismus erfordert Energie, die allerdings nicht zum Ziel führt.
Die Unterscheidung zwischen Erregungsaufschieber*innen (arousal procrastianators), die Spannung in ihr Leben bringen und Vermeidungsaufschieber*innen (avoidance procrastinators), die negative Gefühle loswerden wollen und außerdem zwischen trait procrastination (Aufschieben als Persönlichkeitsmerkmal) und state procrastination (situatives Aufschieben), mag interessant sein, aber nicht besonders hilfreich.
Aufgeschoben wird Angstauslösendes genauso wie Langweiliges. Also spielen entgegengesetzte Auslöser eine Rolle, Überforderung ebenso wie Unterforderung. Und beides kann sich auf Alltägliches beziehen, aber auch auf die wichtigen Lebensentscheidungen, die immer wieder vertagt werden.
Für all das gibt es drei scheinbar einfache Lösungen:
1. Endlich zu tun, was zu tun ist.
2. Aufzugeben, was der Mühe nicht wert ist.
3. Weiter aufzuschieben, aber ohne schlechtes Gewissen.
Der erste Punkt fordert Widerspruch geradezu heraus: Wenn es so leicht wäre, zu tun, was zu tun ist, würde man es einfach tun oder hätte es schon getan. Dann gäbe es das Aufschiebeproblem gar nicht. Oder?
Deshalb folgt der zweite Punkt, der etwas resignativ klingt: Vielleicht ist das brennende Interesse ja abgekühlt, und dass lauwarme Ziele kein Engagement entzünden, ist klar. Dann kann es tatsächlich sinnvoll sein, sich von den Zielen endgültig zu verabschieden.
Überraschender ist der dritte Punkt: Auch die Entscheidung für eine friedliche Koexistenz mit der Aufschieberei ist denkbar. Nicht die Ziele werden verabschiedet, sondern das schlechte Gewissen.
Der Zeitdruck, der auf das Aufschieben folgt, dient manchem sogar als Ansporn, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und schützt vor Verzetteln. Leonard Bernstein schrieb: »Man braucht zwei Dinge, um Großes zu erreichen: einen Plan und zu wenig Zeit.« Doch das kann auch schiefgehen. Der Psychologieprofessor Roger Buehler bat Versuchspersonen, die Zeit zu schätzen, die sie selbst und die andere für eine bestimmte Aufgabe benötigen werden. Systematisch überschätzen sie, wie lange andere brauchen und unterschätzen den eigenen Zeitbedarf.
Viele Erwachsene erzählen rückblickend voll Nostalgie von den durchschriebenen und durchlernten Nächten ihrer Studienzeit und wie sie bei Morgengrauen zum Briefkasten des Prüfungsamtes pilgerten, um das improvisierte Werk fristgerecht einzuwerfen. Mit der mittelmäßigen Note waren sie zufrieden, denn sie konnten sich ja damit trösten, dass eine längere Vorbereitungszeit zu besseren Resultaten geführt hätte und dass sie ihr wahres Potential noch gar nicht ausgeschöpft haben. Hartnäckige Aufschieber*innen schöpfen ihr wahres Potential grundsätzlich nicht aus und erhalten sich so die Hoffnung auf den großen Durchbruch irgendwann in einer fernen Zukunft.
Besonders anfällig sind kreative Perfektionist*innen: Solange sie keine Ergebnisse liefern, vermeiden sie die Bewertung durch andere und das Risiko, hinter ihrem hohen Anspruch zurückzubleiben. Auch das Warten auf Inspiration kann zur Falle werden. Marcel Proust glaubte, an »krankhafter Willensschwäche« zu leiden. Nach jedem unproduktiven Tag hoffte er, dass sich »der folgende Tag den Vorhaben geneigter zeigen« könnte. In ihrem Buch »Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht« fasst Julia Shaw die Forschung zum sogenannten »Planungsfehlschluss« zusammen: Wir neigen zum Glauben, »unser künftiges Ich werde ein Superheld sein und Dinge sehr flink und effizient erledigen« – selbst wenn das bisher noch nie vorgekommen ist.
Falls also kein Wunder geschieht und plötzlich irgendein Tag mit Zuneigung für das eigene Vorhaben überrascht oder wir eines Morgens als Superheld*in aufwachen, bleiben die drei realistischeren Lösungen: Erledigen, aufgeben oder weiter aufschieben, aber mit gutem Gewissen.
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