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Unterbrechungen

Zahlreiche Sprichwörter schreiben die Reihenfolge von Arbeit und Vergnügen vor und malen den Teufel des Aufschiebens an die Wand. Selbsthilfebücher versprechen, beim Teufelaustreiben zu helfen.

Mark Twain sieht das lockerer: »Verschiebe nicht auf morgen, was genauso gut auf übermorgen verschoben werden kann.« 

Zwar ist es beruhigend, unangenehme Aufgaben schnell und frühzeitig zu erledigen. Doch bei seiner Beschäftigung mit originellen Menschen erkannte Adam Grant unerwartete Vorteile des Aufschiebens. Seine Doktorandin Jihae Shin bat Versuchspersonen, eine Geschäftsidee zu entwickeln. Dann durfte eine zufällig ausgewählte Gruppe eine Spielpause einlegen, während die übrigen Teilnehmenden sofort an der Aufgabe arbeiteten. Eine unabhängige Jury schätzte die Vorschläge der Pausengruppe um 28 Prozent kreativer ein.

Die Vermutung: Durch den Aufschub ließen sie ihre Gedanken schweifen und legten sich nicht auf die erste Lösung fest, die ihnen in den Sinn kam. »In der Regel betrachten wir Selbstdisziplin als etwas, das uns hilft, uns zu motivieren, damit wir Aufgaben frühzeitig erledigen. Originelle Menschen greifen jedoch auf genau diese Disziplin zurück, um dem Impuls zu widerstehen, eine Aufgabe schnell hinter sich zu bringen.«

Dadurch bleiben die Aufschiebenden offen für neue Ideen und für Improvisation. »Wenn wir alles im Voraus planen, kleben wir oft an unseren Vorgaben und verschließen uns neuen kreativen Möglichkeiten, die am Horizont auftauchen.«

Bereits im Jahr 1927 hatte die Psychologin Bluma Zeigarnik untersucht, dass Menschen sich an unerledigte Aufgaben besser erinnerten als an erledigte. Der sogenannte Zeigarnik-Effekt ist umstritten und konnte nur teilweise wissenschaftlich repliziert werden. Drehbuchschreiber*innen nutzen den Effekt, wenn sie die Aufmerksamkeit des Publikums durch einen Cliffhanger fesseln. Belastend wirkt er sich aus, wenn unerledigte Pflichten die Freizeit trüben. Doch bei kreative Aufgaben können Unterbrechungen die Chance auf originelle Ideen erhöhen.

Dies gilt nicht nur für Kreative, sondern auch für einen der bedeutendsten Bürgerrechtler: Im August 1963 feilte Martin Luther King an seiner berühmten Rede »Ich habe einen Traum«: Obwohl er zwei Monate Zeit für die Vorbereitung gehabt hätte, fing er erst vier Tage vor dem Marsch auf Washington an, den Text zu schreiben. »Unmittelbar bevor er zu sprechen begann, strich er Zeilen aus und kritzelte neue Sätze, während er darauf wartete, dass er an die Reihe kam. Es sah aus, als würde er immer noch daran feilen, als er das Podium bestieg«, erinnert sich der Politiker Drew Hansen und der Historiker David Garrow schrieb, Martin Luther King habe während der Rede improvisiert wie ein Jazzmusiker. 

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