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Gehirnkapazität

In der Selbsthilfeliteratur ist die Behauptung verbreitet: Angeblich nutzt der Mensch nur zehn Prozent seiner Gehirnkapazität. Üblicherweise folgt das Versprechen, diesen Prozentsatz zu erhöhen.

Der kanadische Psychologieprofessor Barry Beyerstein durchsuchte die Fachliteratur und konnte keinen wissenschaftlichen Ursprung finden. 

Sogar Albert Einstein wird diese Behauptung zugeschrieben, obwohl dafür kein Beleg existiert. Mit Gehirnforschung hat sich der Physiker schließlich nie beschäftigt.

Selbst die Frage, was mit Gehirnkapazität gemeint ist, bleibt unklar: Intelligenz, Gedächtnisleistung oder eine allgemeine Leistungsfähigkeit des Gehirns?

Oft wird auf die Angabe einer Quelle ganz verzichtet und stattdessen eine Einleitungen verwendet wie »Es ist ja bekannt, dass…« oder »Wissenschaftler haben herausgefunden, dass…« Berry Beyerstein vermutet eine »Source Amnesia«, also das Vergessen der Quelle. 

Der Wirtschaftspsychologe Uwe Kanning geht der Frage der Quelle nach: 1533 Menschen wurden gefragt, aus welcher Quelle dieses Wissen komme. 55 Prozent der Stichprobe glaubten, dass diese Aussage richtig wäre. Sie nannten ihre Ausbildung als Quelle, Erfahrung oder die Medien. Selbst Raten führt zu einer besseren Trefferquote. 

Kenneth Higbee und Samuel Clay veröffentlichten im Journal of Psychology einen Artikel mit dem Titel »College students‘ beliefs in the ten-percent myth«: Sie hatten Psychologiestudierende und Laien befragt, und beide Gruppen hielten den Mythos von den 10 Prozent für wahr. Uneinig waren sie sich bei den Konsequenzen. Die zukünftigen Psycholog*innen glaubten eher daran, dass sich die übrigen 90 Prozent des Gehirns aktivieren ließen. 

Die Vorstellung von den faulen Gehirnzellen ist evolutionsbiologisch fragwürdig, denn wenn nur 10 Prozent genutzt würden, hätte sich das Gehirn schon zurückgebildet. Es erinnert an eine dysfunktionale WG, in der kaum jemand beim Putzen hilft, anstatt die Arbeit gerecht zu verteilen. Da erscheint es naheliegend, die neuronalen Faulpelze wachzurütteln. »Unausgesprochen geht der Mythos auch von der Grundannahme aus, dass Nervenzellen ein phlegmatisches Wesen haben und sich am liebsten vor ihrer Arbeit – dem Übermitteln von Informationen – drücken. Doch die Versuchsergebnisse der vergangenen Jahre belegen ohne Zweifel, dass jedes einzelne Neuron vom Wesen her ein arbeitswütiger ›Workaholic‹ ist«, schreibt der Wissenschaftsjournalist Rolf Degen.

Bildgebende Verfahren wie die Positronen-Emissions-Tomographie zeigten jedoch, dass bei Denksportaufgaben jene Proband*innen am besten abschnitten, die sie mit dem geringsten Aufwand lösten. 

Und schon erscheint eine erhöhte Gehirnaktivität gar nicht mehr so erstrebenswert.

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