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Teilleistungsschwäche

Eine Teilleistungsschwäche wird von der Weltgesundheitsorganisation genau definiert. Mit der sogenannten Diskrepanzdefinition lässt sich ausrechnen, ob eine Legasthenie oder Dyskalkulie vorliegt. Die Diskrepanz besteht zwischen den Leistungen eines Kindes im Lesen, Schreiben oder Rechnen und den übrigen geistigen und schulischen Fähigkeiten.

Der Pädagogikprofessor Menno Baumann wendet diese Definition auf seine eigene Kindheit an und dehnt sie fiktiv auf ein Schulfach aus, in dem davon nicht die Rede ist: »Ich hatte als Kind eine Teilleistungsschwäche in Geräteturnen. Wenn ich bei meinen Fortbildungsveranstaltungen herumfrage, dann ist das sehr verbreitet. Ich war gar nicht unsportlich, aber Barren oder Ringe konnte ich gar nicht. Wenn das eine Diagnose wäre, dann hätten meine Lehrer mich jeden Tag aus Unterrichtsfächern herausgenommen, die ich gut konnte und die mir Spaß gemacht haben, um mich im Geräteturnen zu fördern. Und meine Eltern hätten mich zweimal in der Woche zum Ergotherapeuten geschleppt, um mich an der Sprossenwand zu foltern, weil ich das ja nicht konnte. Ich weiß nicht, ob ich dabei friedlich geblieben wäre. Wir muten Kindern zu, sie permanent mit dem zu konfrontieren, was sie nicht können.«

Auch wenn sich Geräteturner*innen vielleicht nichts Schöneres vorstellen können, als am Spannreck zu hängen, ist ein sinnvolles und erfülltes Leben auch ohne Stufenbarren und Schwebebalken möglich. Durch die Überbewertung dieser Sportart würden andere Fähigkeiten überschattet und im schlimmsten Fall verliert ein Kind jede Freude am Sport. Genau das kann die Folge von Teilleistungsschwächen sein.

Brian Little ist Psychologieprofessor an der University of Pennsylvania. Er beschäftigt sich mit persönlichen Konstrukten, die bestimmen, wie jemand über sich und andere denkt: »Nehmen wir an, ›Intelligenz‹ ist ein stark verknüpftes Kernkonstrukt mit zahlreichen Implikationen. Was geschieht, wenn ein Ereignis, etwa das Durchfallen bei einer Semesterprüfung, dieses Konstrukt infrage stellt? Insofern als dieses Erlebnis das Kernkonstrukt einer Person, intelligent zu sein, widerlegt, ist es wohl wahrhaft bedrohlich, weil es sich nicht nur um eine isolierte Widerlegung handelt, sondern das gesamte Konstruktsystem ins Wanken bringt, mit dem die Person ihr Leben meistert. Für einen Menschen, dessen Konstrukt ›intelligent/nicht intelligent‹ nur lose mit anderen Konstrukten zusammenhängt, wäre eine nicht bestandene Prüfung zwar enttäuschend und unangenehm, aber nicht ausgesprochen bedrohlich.«

Obwohl also die Diagnose »Teilleistungsschwäche im Geräteturnen« lästige Förderung bedeutet hätte, wäre sie kein Kernkonstrukt. Anders ist es bei den existierenden Teilleistungsschwächen in Lesen, Schreiben oder Rechnen.

Andere bedeutungsvolle Konstrukte geben auch dann noch Halt, wenn das Kernkonstrukt wegbricht. »Wenn man nur über ein einziges Kernkonstrukt verfügt, gibt es auch nur eine Spur oder Schiene, auf dem man sich entlangbewegen kann. Erweist sich eine bisher gehegte Einschätzung als falsch und nur eine Richtung als gangbar, macht man kehrt und rattert irgendwann zwischen den beiden Polen dieses Konstrukts immer hin und her. Sieht man sich selbst beispielsweise ausschließlich im Lichte des Konstrukts ›intelligent/dumm‹ und scheitert bei irgendeinem Vorhaben, hat man keine andere Wahl, als sich an das Ende des Konstrukts zu begeben, das für ›dumm‹ steht.«

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