unteil.bar

Gehirnhälften

Im siebzehnten Jahrhundert beschäftigte sich der französische Philosoph René Descartes mit der Funktion der beiden Gehirnhälften. Da die Seele unteilbar sei, könne sie sich nicht in zwei identischen Hälften befinden, glaubte er.

Der Chirurg Paul Broca und der Nervenarzt Carl Wernicke stellten im neunzehnten Jahrhundert fest, dass die beiden Gehirnhälften gar nicht identisch sind. Sie beobachteten, dass nur eine Schädigung der linken Hälfte zu Sprachstörungen führte. Verletzungen der rechten Hälfte dagegen erschwerten das Zeichnen und das Lösen von räumlichen Aufgaben.

So wurden der linken Hälfte die verbalen und der rechten Hälfte die nonverbalen Leistungen zugeschrieben. In Experimenten konnte die rechte Hemisphäre schneller Gesichter oder räumliche Strukturen wahrnehmen und die linke Hemisphäre Wörter und sinnlose Silben. Während zunächst die rechte Gehirnhälfte unterschätzt wurde, wendet sich später das Blatt.

Einen Einfluss der Hippiebewegung vermutet der Journalist Rolf Degen: »Es wurde immer wieder kritisch geäußert, dass unsere Gesellschaft mit ihrem Bildungswesen einseitig die trockenen, rationalen Fähigkeiten ihrer linken ›Schokoladenseite‹ favorisiert. Die rechte Hemisphäre, deren verschüttete Talente es zu fördern gelte, wurde zum Hort der unterdrückten, kreativen und intuitiven Menschlichkeit verklärt.«

Selbsthilfebücher und Lernratgeber verbreiten den Mythos von zwei unabhängigen Gehirnen. Youtube-Videos versprechen: »Gehirnhälften synchronisieren mit geheimer Meditationstechnik« oder »Geniale Aktivierung beider Gehirnhälften«. Tests sollen »Linksdenker« von »Rechtsdenkern« unterscheiden.

Der Wirtschaftspsychologe Uwe Peter Kanning deutet mit dem Titel seines Buches »Wie Sie garantiert nicht erfolgreich werden! Dem Phänomen der Erfolgsgurus auf der Spur« an, dass er nicht an das glaubt, was er »Vulgärbiologie« nennt: »Immer wieder gern angesprochen wird auch die einfache Zweiteilung des Großhirns in eine rationale (linke) und eine emotionale (rechte) Hälfte, die sowohl bei Höller als auch bei Ratelband und Enkelmann gern Erwähnung findet. An der Uni schult man nach der Meinung Enkelmanns lediglich die linke Hemisphäre. Will man jedoch im wahren Leben erfolgreich sein, müssen beide Teile des Gehirns harmonisch zusammenarbeiten. Und wie gelingt das? Richtig – nur mit Hilfe von Entspannungstechniken. Entsprechende Kassetten des Autors sind über den wohlsortierten Fachhandel zu beziehen.«

Allerdings ist die Forschung ernüchternd. Bildgebende Verfahren wie die Positronen-Emissions-Tomographie (PET) oder die Kernspintomographie zeigen, welche Regionen im Gehirn tatsächlich aktiv sind. Die Psychologin Jerre Levy maß die Hirnaktivität von Versuchspersonen, die von solchen Tests als linksdominant oder rechtsdominant eingeordnet worden waren und konnte keine Korrelation mit den Testergebnissen feststellen.

Der Neurologe Robert Efron nannte sein Buch über die angeblichen Leistungsunterschiede zwischen den Hemisphären vernichtend »The decline and fall of hemispheric specialization« und schreibt: »Die Forschungen mit den neuen bildgebenden Verfahren brachten überwältigende Beweise, dass viele unterschiedliche Regionen in beiden Hemisphären beansprucht werden, wenn wir irgendeine beliebige kognitive Aufgabe erledigen.«

Die Popularität von Büchern über die Dominanz einer Gehirnhälfte ist ungebrochen: »Es gibt mittlerweile eine schweigende Mehrheit von kognitiven Gehirnforschern, die es einfach nicht der Mühe für wert halten, der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass der Kaiser keine Kleider trägt. Wenn Sie das nächste Mal einen Zeitungsartikel lesen, in dem wieder einmal von einer Spezialisierung einer Hemisphäre die Rede ist, sind bei Ihnen hoffentlich beide Hemisphären skeptischer geworden.«

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