unaufhalt.bar

freies Schreiben

Johann Wolfgang von Goethe nannte es das »nachtwandlerische Dichten« und beschrieb damit eine Schreibtechnik, die später als Freewriting, Écriture automatique oder automatisches Schreiben bezeichnet wurde. Der französische Psychotherapeut Pierre Janet ließ seine Patient*innen im Halbschlaf oder unter Hypnose schreiben, um ihr Unbewusstes zu erforschen.

Im Paris der 1920er Jahre hielt diese Methode Einzug in die surrealistische Literatur. Der Schriftsteller André Breton sprach von einem »Denkdiktat ohne jede Kontrolle der Vernunft«. In seinem surrealistischen Manifest gab er konkrete Anweisungen, wie sich der Vernunft die Kontrolle entziehen lässt:

»Lassen Sie sich etwas zum Schreiben bringen, nachdem Sie es sich irgendwo bequem gemacht haben, wo Sie Ihren Geist so weit wie möglich auf sich selbst konzentrieren können. Versetzen Sie sich in den passivsten oder den rezeptivsten Zustand, dessen Sie fähig sind. Sehen Sie ganz ab von Ihrer Genialität, von Ihren Talenten und denen aller anderen.«

Wer im National Novel Writing Month 50.000 Wörter anstrebt, für den kann die Vorstellung motivierend sein, in einem bequemen, passiven Zustand zu schreiben, wie Oscar Wilde auf einer Couch lümmelnd. Und auch André Breton bezieht sich auf Sigmund Freud und seine Couch und wünscht sich »einen so schnell wie möglich fließenden Monolog, über den der kritische Verstand des Subjekts kein Urteil fällt, der sich infolgedessen keinerlei Verschweigung auferlegt und genauso wie gesprochenes Denken ist.«

Denise Fritsch berät Schreibende und plädiert in ihrem Buch »Schreib täglich! Selbstcoaching für Autoren« für das freie Schreiben. Sie empfiehlt es als geeignetes Gegenmittel bei Perfektionismus, der Ursache zahlreicher Schreibprobleme. »Man schreibt alles auf, was einem in den Sinn kommt. Es ist, als ob man mit sich selbst spricht.«

Das bringe zahlreiche Vorteile: Das freie Schreiben eigne sich als Übergang vom Alltag zum Schreiben, um sich von Stress oder Sorgen zu befreien, als Reflexion und zum Entwickeln der eigenen Schreibstimme.

Offenes Freewriting bedeutet, ohne Thema oder Ziel draufloszuschreiben. Fokussiertes Freewriting dagegen beantwortet eine vorher gestellte Frage.

Das freie Schreiben ist vergleichbar mit dem Aufwärmen beim Sport oder dem Einsingen im Chor. Anschließend kann der entstandene Text beiseitegelegt oder ausgewertet werden, um lohnende Ideen für weitere Schreibprojekte zu nutzen.

Der Lyriker Hans Arp berichtete im Jahr 1917 aus der Schweiz: »Tzara, Serner und ich haben im Café de la Terrasse in Zürich einen Gedichtzyklus geschrieben: ›Die Hyperbel vom Krokodilcoiffeur und dem Spazierstock‹.« Er nannte sie »Simultangedichte«.

Wie gut, dass der Krokodilcoiffeur für die Nachwelt erhalten blieb!

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