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Klarheit

Die Verständlichkeit war zuerst da. Wenn ein Kind lernt zu sprechen, verwendet es keine Einschübe, Schachtelsätze oder doppelte Verneinungen. Auch im Laufe der Menschheitsgeschichte stand Klarheit hoch im Kurs: »Einst, als jedes Wort in Ton, Holz oder Stein geritzt, geschnitzt oder gemeißelt werden musste, da fand eine dramatische Sprach-Erziehung statt – weg vom Geschnatter am Lagerfeuer, hin zu höchster Wort-Ökonomie, zu Kürze, Kraft und Substanz. Rückwirkend betrachtet, lässt sich leicht ermessen, welchen Aufruhr unter den Steinmetzen es gegeben haben würde, hätten sie Wortgebilde wie bemühungsresistente Inkompetenzen in den Marmor meißeln müssen.« (Wolf Schneider)

Heutzutage werden Texte jedoch nicht mehr in Stein gemeißelt – was spricht also gegen einen komplizierten Stil? Für den Journalisten Wolf Schneider gehört es zu den Aufgaben seiner Kolleginnen und Kollegen, verständlich und anregend zu schreiben. »Wenn einer etwas nicht lesen mag, was ein anderer für ihn geschrieben hat – wer hat dann schuld: der Leser oder der Schreiber? Wenn ich mich über den Brief einer Behörde ärgere, eine Gebrauchsanweisung nicht verstehe, einen Roman gelangweilt zur Seite lege – soll ich dann dazulernen oder der Mensch, der das geschrieben hat? Einerseits muss natürlich jeder lesen lernen: nicht nur buchstabieren wie das Schulkind, sondern auch mit Texten umgehen, die einige Ansprüche an das Mitdenken stellen. Dies betrachten die Deutschlehrer als zentrale Aufgabe, und die ›Stiftung Lesen‹ unterstützt sie darin: Unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten und finanziert von einem Stifterrat aus Bundesländern, Buchverlagen und Industrie, will sie Kinder zu besserem Lesen erziehen und ihnen Lesespaß vermitteln. Anderseits muss man die Frage stellen, ob nicht auch und vor allem die Schreiber erzogen werden sollten.«

Journalist*innen und Schriftsteller*innen werden bezahlt, die Leser*innen dagegen nicht. Deshalb sollten nicht sie die Arbeit der Profis übernehmen müssen: »Einer muss sich nämlich immer plagen, wenn Verständigung zustande kommen soll: der Schreiber oder der Leser. Dass die meisten Deutschlehrer überwiegend oder ausschließlich die Plage des Lesens lehren, ist anfechtbar und ärgerlich. Und auch von der ›Stiftung Lesen‹ würde man sich wünschen, dass irgendwo in ihren Statuten oder Publikationen wenigstens einmal ein Satz vorkäme wie dieser: ›Wir lehren nur das Lesen, aber wir übersehen nicht, dass den Lesern großenteils Texte zugemutet werden, die die mangelnde Erziehung des Schreibers verraten.‹«

Stephen King veranschaulicht den hochtrabenden Stil mit einem bodenständigen Vergleich: »Eines der schlimmsten Dinge, die man dem eigenen Schreibstil antun kann, ist das Vokabular schön herauszuputzen und nach langen Wörtern zu suchen, nur weil man sich ein bisschen für die vielen kurzen schämt. Das ist so, als würde man ein Haustier in eine Abendrobe stecken. Dem Haustier ist es peinlich, und dem Menschen, der diese vorsätzliche Verniedlichung begeht, sollte es noch viel peinlicher sein.«

Auch wenn dieser Mensch durchaus legere Texte schreiben kann, vermutet er bei offiziellen Anlässen einen formalen Dresscode für das Haustier.

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