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Teilleistungsschwäche

Die Neurowissenschaftlerin Sharon Thompson-Schill hielt einen Vortrag vor den prominenten und erfolgreichen Sponsor*innen der University of Pennsylvania und fragte, wer schon mal als lernbehindert diagnostiziert worden war. »Die Hälfte hob die Hand. Ich konnte es kaum glauben.«

Malcolm Gladwell schlägt zwei mögliche Erklärungen vor: »Entweder waren diese Menschen trotz ihrer Behinderung erfolgreich, das heißt, sie waren so intelligent und kreativ, dass sie sich durch nichts aufhalten ließen. Oder Richard Branson und seine Kollegen waren gerade wegen ihrer Behinderung erfolgreich, das heißt, sie lernten in ihrem Kampf mit der Behinderung etwas, das sich als gewaltiger Vorteil herausstellte. Würden Sie Ihrem Kind Legasthenie wünschen? Wenn die zweite Erklärung zutrifft, dann vielleicht schon.«

Er beschreibt das Leben des amerikanischen Strafverteidigers David Boies, der als Legastheniker das Lesen nur mühsam erlernte. Schon als Kind interessierte er sich für Gesetze, doch ein Jurastudium verlangte ein umfangreiches Lesepensum. Die langen Texte umging er, indem er zu den Zusammenfassungen der wichtigsten Urteile griff. Außerdem konnte er mit einer Fähigkeit punkten, die er während seiner schwierigen Schulzeit erworben hatte: »Ich habe mein ganzes Leben lang zugehört. Das musste ich können, weil das für mich der einzige Weg war, etwas zu lernen. Ich erinnere mich an das, was jemand sagt. Und ich erinnere mich auch daran, wie jemand etwas sagt und welche Worte er verwendet.«

Wenn er vor Gericht etwas vorlesen muss und über ein unbekanntes Wort stolpert, buchstabiert es David Boies wie ein Grundschulkind. Auf die Zuhörenden wirkt das keineswegs negativ, sondern eher exzentrisch. »Natürlich wäre vieles einfacher, wenn ich schneller lesen könnte. Aber weil ich nicht viel lesen kann und weil ich vor allem durch Zuhören und Fragen lerne, muss ich alles auf das Wesentliche reduzieren. Und das hilft, denn die Richter und Geschworenen haben auch nicht die Zeit, sich tief in ein Thema einzulesen. Es ist eine meiner Stärken, dass ich ihnen den Fall so präsentieren kann, dass sie ihn verstehen.«

Damit hebt er sich von seinen Kolleg*innen ab: »Die Anwälte der Gegenseite sind meist von der gelehrten Sorte und haben jede verfügbare Analyse des Falls gelesen. Wieder und wieder verheddern sie sich in Details. Das passiert Boies nicht.«

Pippi Langstrumpf haderte ebenfalls mit der Rechtschreibung. Als ihre Freundin Annika vorschlug: »Ja, du solltest doch in die Schule gehen und etwas besser schreiben lernen«, lehnte sie ab mit der Begründung: »Na danke, das hab ich einmal einen ganzen Tag lang getan, und da hab ich so viel Weisheit in mich reinbekommen, dass mir jetzt noch der Kopf brummt.«

Nicht nur David Boies würde von all der Weisheit der Kopf brummen, sondern auch den Geschworenen.

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