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Lesegeschwindigkeit

Hätte es damals schon Wettbüros gegeben, dann wäre die Quote eindeutig gewesen: Wie soll ein Hirtenjunge den großen und starken Goliath besiegen?

Das überraschende Ergebnis dieses biblischen Zweikampfs ist so bekannt, dass der kanadische Wissenschaftsjournalist Malcolm Gladwell ein Buch nach den beiden ungleichen Kämpfern benannte: »David und Goliath. Die Kunst, Übermächtige zu bezwingen.« Ein Kapitel trägt den Titel »Niemand würde seinem Kind Legasthenie wünschen. Oder vielleicht doch?«

Anders als zu biblischen Zeiten spielt darin ein Gehirnscanner eine Rolle. Malcolm Gladwell beschreibt, was auf dem Bildschirm zu sehen ist: »Dort zeigt sich, dass bei Legasthenikern während des Lesens einige Regionen, die eigentlich aktiv werden sollten, völlig dunkel bleiben. Das Bild erinnert ein wenig an die Luftaufnahme einer Stadt während eines nächtlichen Stromausfalls.«

Die Legasthenieforscherin Nadine Gaab von der Harvard University erklärt: »Die Kinder brauchen sehr lange, um lesen zu lernen. Und selbst dann lesen sie nur langsam, was wiederum den Sprachfluss unterbricht und das Verständnis erschwert. Und weil sie so lange brauchen, haben sie am Ende des Satzes den Anfang schon wieder vergessen. Deshalb haben diese Kinder in der Schule alle möglichen Probleme. Auch die anderen Fächer werden in Mitleidenschaft gezogen.«

Kann langsames Lesen auch Vorteile bringen? Der Titel des Buches von Malcolm Gladwell legt das nahe. Als Beispiel dient eine kurze Rechenaufgabe, die sich schnell lesen lässt: »Ein Baseballschläger und ein Ball kosten zusammen 1,10 Dollar. Der Schläger kostet einen Dollar mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball? ›10 Cent‹, antworteten mehr als 80 Prozent der befragten Studenten – das falsche Ergebnis.« (Der SPIEGEL 21/2012)

Welche Sprengkraft diese scheinbar harmlose Aufgabe besitzt, zeigt zwei Wochen später ein Leserbrief: »Wir haben uns die halbe Nacht gestritten und geprügelt. Sollten Sie nicht umgehend bekanntgeben, wie viel der Baseball kostet, tragen Sie die Scheidungskosten.« Unklar bleibt, wer die Prügelei gewonnen hat, wer größer und stärker war (wie Goliath) oder listig und geschickt (wie David).

Die Rechenaufgabe stellte Shane Frederick vom Massachusetts Institute of Technology im sogenannten Cognitive Reflection Test (CRT). Er wollte damit keine Prügeleien oder Scheidungen provozieren, sondern herausfinden, wer Fragen reflexhaft falsch beantwortet und wer analytisch zu korrekten Urteilen kommt.

Der Test besteht aus nur drei Fragen, die Adam Alter und Daniel Oppenheimer für ein weiteres Experiment nutzten: Sie wählten eine kleine, hellgraue Schrift, serifenlos und kursiv, als wollten sie den Studierenden der Princeton University das Leben schwer machen.

Statt durchschnittlich 1,9 Fragen beantworteten diese unter erschwerten Bedingungen im Schnitt 2,45 Fragen korrekt. Wie konnte eine Erschwernis die Leistung verbessern? Die Studierenden waren gezwungen, sich besonders anzustrengen: »Wir müssen mehr Ressourcen aufwenden. Wir verarbeiten das Gelesene besser oder denken genauer darüber nach, was hier eigentlich vorgeht.« (Adam Alter)

Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman schrieb ein Loblied auf das langsame Denken. Sein Buch »Schnelles Denken, langsames Denken« ist so dick, dass schnelles Lesen sicherlich Zeitvorteile bringt und Leser*innen sich über gute Druckqualität freuen. Gut lesbare Texte führen nicht automatisch zu voreiligen Schlussfolgerungen. Doch wer beim Lesen von Kahnemans Buch, ob schnell oder langsam, bis zum Schluss durchhält, wird schnelleres Lesen und Denken nicht in jedem Fall für besseres Lesen und Denken halten. Wetten?

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