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Lesen durch Schreiben

»Kinder lernen umso mehr, je weniger sie belehrt werden«. Daran glaubte der Schweizer Reformpädagoge Jürgen Reichen. Er entwickelte aus diesem Grund die Methode »Lesen durch Schreiben« und machte sich damit viele Feind*innen. Sie sahen darin die Ursache für Rechtschreibschwierigkeiten und Legasthenie.

Unklar bleibt, wieso Legasthenie schon lange vor der Methode von Reichen existierte und auch dort, wo das Lesen gar nicht durch Schreiben gelernt wurde. Zu bestechend ist der Zusammenhang auf den ersten Blick: Kinder dürfen schreiben, was sie hören und werden nicht korrigiert. Kein Wunder, dass niemand mehr richtig schreiben kann – und fertig ist das Feindbild. Ergänzt wird es durch Argumente, die mit »Wir mussten damals auch…« beginnen oder mit »Wir durften auch nicht einfach…«

Außerdem wird befürchtet, die Bedeutung der Rechtschreibung werde angezweifelt. Der Grundschulforscher Jörg Ramseger tut das Gegenteil: »Orthografie ist sehr wichtig. Jede E-Mail offenbart meine Rechtschreibkenntnisse und kann darüber entscheiden, für wie klug ich gehalten werde. Es geht um Jobs, um Mitbestimmungsmöglichkeiten im Gemeinwesen und damit auch um unsere politische Kultur. Allerdings ist es fachlich Blödsinn, nur noch den Fibelunterricht zuzulassen.«

Was als »Schreiben nach Gehör« bezeichnet wird, sei keine eigenständige Methode, sondern eine von drei Entwicklungsphasen, die alle Kinder durchlaufen, bis sie korrekt schreiben können. »Auch die Fibellehrgänge beachten diese Phase, es wird den Kindern nur allen gleichzeitig vorgeschrieben, welches Zeichen sie wann einüben müssen, selbst wenn sie es schon beherrschen. In den fibelfreien Methoden soll sich das Kind zunächst als ›Schriftsteller‹ erfahren.«

Die Kinder lernen, sich schriftlich mitzuteilen, auf ihrem sprachlichen Niveau und unabhängig von den oft anspruchslosen Texten der Lehrbücher. Gleichzeitig üben sie die Zuordnung von Lauten zu Buchstaben.

Wer in der Grundschule Geschichten über einen »Klaun« verfasst, ist nicht dazu verdammt, das Wort für alle Zeiten fehlerhaft zu schreiben. Und auch seine Kollegin, die »Tentserin«, erhält eines Tages ihre richtige Schreibweise.

Vergleiche mit dem Mathematikunterricht (»In Mathe dürfen die Kinder auch nicht rechnen ›2 plus 2 ist 5‹«) vernachlässigen die Ausnahmen der Rechtschreibung, die es in der Mathematik so nicht gibt. Insofern wäre der Ansatz, zuerst die Regeln und dann die Ausnahmen zu lernen, beim Rechnen unsinnig.

Der SPIEGEL beklagt seit Jahrzehnten den Verfall der Schriftsprache, so auch im Juli 1984: »Mit der Rechtschreibung wird es immer schlechter, das Ausdrucksvermögen nimmt mehr und mehr ab. Der Niedergang meldet sich nicht nur in den Schulen der Bundesrepublik, sondern längst auch in den Amtsstuben, in Büros oder Betrieben.« Zur Illustration wird eine Rekordfalschschreibung zitiert: »Den Gipfel erblickte, soweit ersichtlich, ein Berufsschullehrer in Nordrhein-Westfalen. In dessen Klasse gelang es einem Schüler, in einem Wort mit vier Buchstaben sechs Fehler unterzubringen. Aus dem Hemd wurde ein hämmptt.«

Das Hemd mit ä ist offensichtlich kein Resultat des Schreibens nach Gehör, sondern ganz im Gegenteil eine Übergeneralisierung der erlernten Regeln. Mit Ableitungsregeln lassen sich Buchstaben schreiben, die so nicht zu hören sind. Dadurch bekommt nicht nur die Tänzerin endlich ihr ä, sondern manchmal auch der Mässerwärfer. Doch er bevölkert zusammen mit dem Klaun nur ein Durchgangsstadium. Ganz ohne Belährungen.

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