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Brailleschrift

Der Dreijährige durfte die Schusterwerkstatt seines Vaters nicht betreten, da sie zu gefährlich für Kinder war. Doch das Leder und die Werkzeuge faszinierten den kleinen Louis, und so passierte genau das, was der Vater verhindern wollte: Das Kind verletzte seine Augen und erblindete.

Im Jahr 1812 gab es kaum Hilfsmittel für blinde Menschen. Also fertigte der Vater selbst welche an. Er schlug Nägel in ein Stück Holz, um seinem Sohn die Buchstaben beizubringen und schnitzte einen Blindenstock. So konnte Louis als einziges blindes Kind die Dorfschule besuchen.

Seine guten Noten ermöglichten ihm im Jahr 1816 den Besuch des Königlichen Instituts für junge Blinde in Paris, einer der ersten Blindenschulen der Welt. Der Gründer der Schule hatte eine Tastschrift entwickelt, für die er lateinische Buchstaben in dickes Papier prägte. Die schweren Bücher waren jedoch unhandlich und die Herstellung aufwendig.

Um nachts lautlos Befehle weiterzuleiten, dachte sich der Offizier Charles Barbier de la Serie die sogenannte Nachtschrift aus. Das System war kompliziert, ahmte aber anders als die Tastschrift keine Buchstaben nach, sondern beschränkte sich auf Punkte. Als er seine Schrift im Pariser Blindeninstitut vorstellte, griff Louis die Idee auf. Er orientierte sich nicht mehr an lateinischen Buchstaben, sondern erfand minimalistische Symbole.

In den Sommerferien experimentierte er in der Werkstatt seines Vaters mit Leder und den Nadeln, die ihm zwölf Jahre zuvor das Augenlicht geraubt hatten. Sein System war genial. Mit nur sechs Punkten ließen sich 2⁶ = 64 Zeichen darstellen: Buchstaben, aber auch Zahlen, Satzzeichen, mathematische Symbole und sogar Musiknoten.

Nach den Ferien stellte Louis das System seinen Mitschüler*innen und Lehrer*innen vor. Sie nutzten es gerne, denn die nagelneue Schrift ließ sich leicht mit den Fingerspitzen lesen. Dennoch wurde die Punktschrift im Jahr 1840 verboten: Blinde Menschen sollten keine eigene Schrift haben. Viele blinde Kinder lernten sie daraufhin heimlich.

Heutzutage verwenden weltweit 40 Millionen Menschen die Schrift, die nach ihrem Erfinder Louis Braille benannt ist.

Der Dudenverlag beantwortet in einem kurzen Band mit dem Titel »Sprachen ohne Worte – Kommunikation auf anderen Wegen« unter anderem die Fragen »Wie ›sprechen‹ eigentlich Menschen unter Wasser miteinander?«, »Wie wird eine Ballettchoreographie aufgeschrieben?« und »Auf welche Notationsform greift man zurück, wenn man die Schwarzschrift nicht sehen kann?«

Die Antwort schildert die Anfänge der Blindenschrift: »So prägte oder punktierte man bereits im 18. Jahrhundert Buchstaben ins Papier. Doch die meisten dieser Relief-Schriften wurden von Sehenden entwickelt und orientierten sich an der lateinischen Schrift. Deshalb erwiesen sie sich als kaum praktikabel, auch wenn sie gut durchdacht waren. So waren manche Buchstaben nur schwer voneinander zu unterscheiden, das Abtasten dauert lange und das Lesen war daher mühselig. Zudem konnten Blinde sie nicht selbst schreiben.«

Louis Braille stellte seine Schrift dem französischen Innenminister vor. Der ließ jedoch seinen lobenden Worten keine Taten folgen: »Diese Arbeit scheint mir hervorragend, und Herr Braille verdient, ermutigt zu werden.« Den internationalen Siegeszug seiner Erfindung erlebte Louis Braille nicht mehr. Im Jahr 1852 starb er an Tuberkulose, vierzig Jahre nach dem Unfall in der Werkstatt seines Vaters.

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