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Sinn und Verstand

Über den Infoabend zur Laufbahnberatung berichtet die Mutter einer Neuntklässlerin: 

»Die Schuldirektorin hat einen 45-minütigen Monolog gehalten, dessen Quintessenz war, dass das Leben kein Ponyhof ist, der Beruf später sowieso keinen Spaß macht und man sich bloß nicht der Illusion hingeben soll, dass Schule in irgendeiner Weise erfreulich ist. Als die Direktorin am Ende meinte, wir könnten jetzt Fragen stellen, war ich kurz davor zu fragen, was ihr Drachenname wäre.«

Auch die feuerspeiende Drachendame Frau Mahlzahn aus Kummerland hält nichts von Lernfreude, wie in Michael Endes Buch »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer« nachzulesen ist. Kummerland ähnelt garantiert keinem Ponyhof.

Dagegen schrieb der Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi vor über 200 Jahren: »Alles Lernen ist nicht einen Heller wert, wenn Mut und Freude dabei verlorengehen.«

Dass seitdem zahlreiche Schulen nach Herrn Pestalozzi benannt wurden, während bisher keine Frau-Mahlzahn-Schule existiert, macht Hoffnung. In der Theorie sind Ermutigung und Freude am Lernen also durchaus erwünscht. Aber wie sieht die Praxis aus?

Das Kindermagazin ZEIT LEO befragte gemeinsam mit dem e-Learninganbieter scoyo 860 Kinder zwischen sechs und dreizehn Jahren, ob ihnen das Lernen in der Schule Spaß mache. »Ja, immer«, antworteten immerhin 53% der Sechsjährigen, aber nur noch 32% der Zehnjährigen und gerade mal 6% der Dreizehnjährigen. Frau Mahlzahn wäre begeistert von diesem Abwärtstrend.

Nicht nur Spaß fördert das Lernen, sondern auch Sinn. Tatjana Schnell forscht und lehrt an der Universität Innsbruck zum Thema Lebenssinn: »Sinn motiviert, sich auch mit Anstrengungen und Stressoren produktiv auseinanderzusetzen. Ohne Sinn werden diese vor allem als Last wahrgenommen, als Zumutungen, denen man sich nicht stellen mag.«

Sie ließ 62 Studierende von morgens bis abends ihre Beschäftigungen dokumentieren und beurteilen. Bei der Auswertung differenzierte sie, wie angenehm oder sinnvoll die verschiedenen Tätigkeiten den Studierenden erschienen.

Am größten ist die Diskrepanz beim Fernsehen, das häufig als angenehm und selten als sinnvoll erlebt wird. Kultur, Musik, Sport und Kommunikation gelten als angenehm und sinnvoll zugleich. »Die einzige Aktivität, die häufiger als sinnvoll denn als angenehm bewertet wird, ist das Studieren.«

Beide Werte sind jedoch beunruhigend niedrig: »Nur ungefähr die Hälfte der mit dem Studium verbundenen Tätigkeiten wird als sinnvoll erlebt, gerade einmal ein Fünftel der Tätigkeiten als angenehm.«

Tatjana Schnell vermutet, dass durch den Zeit- und Leistungsdruck im Studium sowohl Raum als auch Anreiz für erfahrungsbezogenes und verstehendes Lernen fehlen. »In zunehmender Distanz zu humanistischen Idealen ist Bildung zu einem Merkmal individueller Beschäftigungsfähigkeit geworden.« (Tatjana Schnell: »Psychologie des Lebenssinns«)

Diese sogenannte »Employability« orientiert sich an einer Berufswelt, die eher an Kummerland erinnert als an einen Ponyhof: Seit 2001 erschreckt jährlich der sogenannte »Gallup-Index« die Öffentlichkeit, demzufolge die Mehrheit der Arbeitnehmer*innen nur noch Dienst nach Vorschrift verrichte.

Der Kulturanthropologe David Graeber bezeichnete nutzlose Berufe prägnant als »Bullshit-Jobs« und stellte ihnen sinnvolle aber schlecht bezahlte Arbeit gegenüber:

»Stellen wir uns vor, eine bestimmte Gruppe von Menschen würde einfach verschwinden. Angenommen, wir würden alle eines Morgens aufwachen und feststellen, dass nicht nur Krankenschwestern, Müllarbeiter und Mechaniker verschwunden sind, sondern dass auch Busfahrer, Lebensmittelverkäufer, Feuerwehrleute und Schnellrestaurantköche in eine andere Dimension transportiert wurden. Die Folgen wären gleichermaßen katastrophal. Würden Grundschullehrer verschwinden, würden die meisten Schulkinder einen oder zwei Tage lang feiern, aber die langfristigen Effekte wären verheerend. Das Gleiche kann man sicher nicht über Hedgefonds-Manager sagen, und ebenso wenig über politische Berater. Häufig sind sogar an der Spitze von Großunternehmen scheinbar unentbehrliche Stellen über lange Zeiträume hinweg nicht besetzt, ohne dass es merkliche Auswirkungen hätte – nicht einmal auf die Organisation selbst.« (David Graeber: »Bullshit Jobs: Vom wahren Sinn der Arbeit«)

Friedrich Nietzsche wird das Zitat zugeschrieben »Wer ein Warum hat, dem ist kein Wie zu schwer«. Entmutigend ist das Lernen oder das Arbeiten jedoch dann, wenn es keinen Spaß macht und zudem noch nutzlos ist.

Auf die Nachfrage, ob ihre plastische Zusammenfassung von Direktorin Mahlzahns Monolog für diesen Beitrag verwendet werden darf, antwortete die gebeutelte Zuhörerin: »Dann hätte diese Tortur wenigstens einen Nutzen.«

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