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Lesematerial
»Der Kurs ›Englisch als Zweitsprache‹ fällt heute aus«, steht auf der Tafel, die von den wartenden Teilnehmer*innen ignoriert wird. Dieser Cartoon spielt auf die Vergeblichkeit an, in einer Sprache zu kommunizieren, die nicht verstanden wird.
Dennoch empfiehlt der natürliche Ansatz von Stephen Krashen und Tracy Terrell genau das. Der Anteil der Zielsprache soll im Sprachkurs so groß wie möglich sein.
In einem Notfall, wenn etwa ein Feuer ausbricht, darf die Feuerwehr von diesem Grundsatz zugunsten der Verständlichkeit abweichen. Glück gehabt! Ohne Gefahr dagegen keine Muttersprache.
Jeanne Egasse ist Professorin für Spanisch und wird bei Workshops von Fremdsprachenlehrenden gefragt, was sie tun sollen, wenn die Fremdsprachenlernenden sie nichts verstehen. Kein Wunder, findet Jeanne Egasse: Mit Zweijährigen rede man ja auch nicht über Inflation, sondern über ihre Zopfspangen oder das Spielzeugfeuerwehrauto. Auf ihrem Niveau.
So als wären nicht die Sprachkenntnisse eingeschränkt, sondern die intellektuellen Fähigkeiten. Auch die Englischlernenden im Cartoon wirken merkwürdig stumpfsinnig, wie sie auf ihre Lehrkraft warten und nicht auf die Idee kommen, dass die Nachricht auf der Tafel eine Bedeutung für sie haben könnte.
In ihrem Buch »Sprachenlernen leichtgemacht« schrieb Vera Birkenbihl: »Ich halte es für eines jener ›Ammenmärchen‹ über das Sprachenlernen, dass Texte für Einsteiger besonders einfach sein sollen. Schließlich ist der Anfänger in einer Sprache ja deshalb noch lange kein ungebildeter Halbidiot« und zeigt nicht unbedingt ein besonderes Interesse für Spielzeugfeuerwehrautos oder Zopfspangen. »Angenommen, ein Lernwilliger befasst sich regelmäßig mit Fachtexten irgendeiner Art, sei das nun Physik oder Philosophie: Er wird Aussagen aus seinem Wissensgebiet in der Zielsprache wesentlich leichter verstehen als eine ›leicht vorstellbare Situation‹, die mit seinem täglichen Leben nichts zu tun hat bzw. die ihn nicht interessiert.«
Wie aber lesen die Physikerin und der Philosoph fremdsprachige Text in einer Sprache, die sie (noch) nicht verstehen – egal ob er von Physik, Philosophie oder Zopfspangen handelt?
Bernhard Teichmann schlug bereits im Jahr 1892 in seinem Buch »Teichmanns praktische Methode Französisch« vor, dass sich schon Anfänger*innen ohne Wörterbuch und ohne Rücksicht auf volles Verständnis an Originalliteratur wagen: »Die Lektüre ohne Wörterbuch bezweckt die Ausbildung des Sprachgefühls; es ist ganz erstaunlich, welche Fertigkeit man in dem Erraten der Bedeutung vollständig unbekannter Wörter erlangen kann, so dass man nach einigen Monaten durch tägliche Übung mit Leichtigkeit französische Werke versteht. Die Lektüre muss vor allen Dingen den Lesenden anregen und so interessant sein, dass derselbe ganz vergisst, dass er nicht seine Muttersprache liest.«
Ein kurzer Text wie der Hinweis auf den gestrichenen Englischkurs reicht nicht aus. Längere Werke dagegen ermöglichen es, den Grundwortschatz der Autor*innen kennenzulernen. Dadurch wird das Lesen immer einfacher und das Erraten unbekannter Wörter immer leichter. Handelt der Text vielleicht von einer Zopfspange?