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Zielgruppe

Für jede*n sieht die perfekte Wohlfühlecke anders aus. Wissenschaftler*innen sind bekannt für ihren eigenwilligen Geschmack, und so tummeln sich in der wissenschaftlichen Lieblingsecke Fakten, Zahlen und Prozente. Doch das ist nicht unbedingt die Wohlfühlecke des Publikums.

Beatrice Lugger ist Chemikerin, und die Wissenschaftskommunikation wurde ihr Leib- und Magenthema. Sie hilft Kolleg*innen, von ihrer Zielgruppe besser verstanden zu werden und auf deren Fragen einzugehen. Während früher in eine Richtung kommuniziert wurde mit dem Ziel, Wissenslücken der Laien aufzufüllen, ist Wissenschaft inzwischen so komplex, dass es wichtiger erscheint, Prozesse von Wissenschaft zu vermitteln und in den Dialog zu treten. Von Wohlfühlecke zu Wohlfühlecke.

Die Anforderungen an gelingende Kommunikation werden also immer höher, aber gleichzeitig stellte das schwedische Karolinska Institut fest, dass der Gebrauch von Alltagssprache in medizinischen Publikationen abnimmt und dass die Anzahl von fachspezifischen Begriffen zunimmt. (Plavén-Sigray et al. »The readability of scientific texts is decreasing over time.«)

Von verständlicher Sprache profitieren Leser*innen unabhängig von ihrer Schulbildung. Sie reagieren positiver auf die Texte und lesen sie lieber. Die Inhalte werden besser verstanden und behalten.

Neben geläufiger Sprache ist es hilfreich, Zahlen anschaulich darzustellen. Der Bildungsforscher Gerd Gigerenzer zitiert eine Umfrage, bei der 1000 Menschen angeben sollten, was »40 Prozent« bedeutet. Ein Drittel der Befragten gab eine falsche Antwort; sie tippten auf »ein Viertel« oder »jeder Vierzigste«. Für Ärzt*innen ist es also ratsam, nicht von einer Wahrscheinlichkeit von 30 bis 50 Prozent zu sprechen, mit der Nebenwirkungen auftreten, sondern dass drei bis fünf von zehn Menschen von Nebenwirkungen betroffen sind.

Was aber, wenn es die Ärzt*innen selbst sind, die mit den Prozentzahlen kämpfen? Der Nobelpreisträger Daniel Kahneman beschreibt in seinem Buch »Schnelles Denken, langsames Denken«, wie unterschiedlich die befragten Ärzt*innen entschieden, wenn entweder von einer Überlebensrate von 90 Prozent oder von einer Sterblichkeit von 10 Prozent die Rede war, obwohl damit ein identischer Sachverhalt beschrieben wurde. »Viele Ärzte sind in statistischem Denken schlecht ausgebildet und sind kaum motiviert, sich mit dieser seltsamen Denkweise zu befassen. Wenn aber die Patienten einmal damit anfangen, sich um Zahlen zu kümmern, könnten die Ärzte gezwungen sein, es ihnen gleichzutun.« So wünscht sich Gerd Gigerenzer den Dialog, der die einseitige Kommunikation ablöst.

Auch mit Professorentitel verzweifelte Reinhard Tausch an manchen Schulbüchern: »Meine eigenen Kinder baten mich des Öfteren bei ihren Schularbeiten um Hilfe, in Erdkunde, Physik, Geschichte oder Fremdsprachen. Aber auch ich konnte ihre Schulbücher nicht verstehen. Ich konnte ihnen anhand ihrer Lehrtexte z.B. nicht erklären, was es mit den Strahlengesetzen oder der Mondfinsternis auf sich hatte – obwohl ich Professor einer Universität war.«

Gemeinsam mit zwei weiteren Professoren (Inghard Langer und Friedemann Schulz von Thun) entwickelte er das Hamburger Verständlichkeitsmodell und stellt die scheinbar rhetorische Frage »Wollen Sie lernen sich verständlich auszudrücken?«

Die Antwort ist weniger selbstverständlich, als sie scheint, denn sie beinhaltet auch die Überlegung: »Habe ich genug Selbstbewusstsein, meine Ideen, Auffassungen und Schlussfolgerungen einfach und bescheiden darzustellen, ohne sie hinter einer imponierenden Fassade von Schwerverständlichkeit zu verstecken?« Und auch: »Habe ich genug Mut und Selbstbewusstsein, es zu ertragen, wenn ich auf Grund meiner leicht verständlichen Texte von einigen Kollegen als weniger kompetent angesehen werde?«

Neben der tatsächlichen Zielgruppe spielen also auch die mitgedachten Leser*innen eine Rolle, die Kolleg*innen, die der Text beeindrucken soll. Emotionale und wertende Ich-Aussagen außerhalb der sicheren Wohlfühlecke machen angreifbar. Davon bin ich zutiefst überzeugt. Und bestimmt lässt sich das auch mit Prozenten belegen.

Wir freuen uns auf Anregung und Empfehlungen von Lehrenden und Lernenden (wer ist das nicht?!) per Mail oder einfach hier im Kommentarfeld.

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