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ethische Intelligenz

In der normativen Ethik geht es häufig um Fragen von Leben und Tod. Eine Gruppe kann in weltfremden Gedankenexperimenten nur gerettet werden, indem man einen einzelnen Menschen opfert. Oder man steht vor der Entscheidung, aus einem brennenden Krankenhaus entweder ein Baby zu befreien oder einen Forscher, der ein Mittel gegen Krebs entwickelt.

Zum Glück sind das keine häufig vorkommenden Szenarien. Doch in solchen Extremsituationen scheint ethisches Verhalten naheliegender zu sein als im alltäglichen Leben. Helen Keller brachte es auf den Punkt, als sie schrieb: »Ich sehne mich danach, eine große und noble Aufgabe zu erfüllen, doch ist es meine größte Pflicht, kleine Aufgaben so zu erfüllen, als ob sie groß und nobel wären.«

Während der Gedanke an großartige Heldentaten berauschen kann, werden die unauffälligen guten Taten im Alltag eher unterschätzt. Schon der griechische Dichter Aesop sah das anders: »Kein Akt der Freundlichkeit, wie klein auch immer, ist vergebens.« Aldous Huxley kam zu dem unspektakulären Schluss: »Es ist ein bisschen peinlich, dass nach 45 Jahren Forschung und Studium der beste Rat, den ich den Menschen geben kann, ist, etwas freundlicher zueinander zu sein.«

Das ist auch das Anliegen des schwedischen Arztes Stefan Einhorn. Er nannte sein Buch »Die Kunst, ein freundlicher Mensch zu sein« oder im Original »Konsten att vara snäll«. Das Wort »Snäll« bedeutet nicht nur »freundlich«, sondern kann je nach Kontext auch »sanft«, »gutmütig« oder »brav« bedeuten.

Stefan Einhorn thematisiert die verschiedenen Bedeutungen und stellt ihnen seine persönliche Definition gegenüber. »›Snäll‹ ist bekanntlich ein Wort, das nicht nur positive Assoziationen weckt. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass ‚snäll‘ oft mit Begriffen wie Dummheit, Weichlichkeit und Schwäche verbunden wird.« Er spricht von »ethischer Intelligenz«, und die sei lernbar: »Für mich ist ein freundlicher Mensch jemand, der mit der Ethik im Herzen lebt. Ein solcher Mensch trägt die Fürsorge für seine Mitmenschen stets bewusst mit sich. In meinen Ohren klingt das nach ausgesprochen guten Eigenschaften. Und der gütige Mensch ist ganz und gar nicht dumm – im Gegenteil: Er ist sehr klug.«

Es war ausgerechnet das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, über das Theologiestudent*innen in einem Experiment von John Darley und Daniel Batson predigen sollten. Unterwegs begegneten sie einem scheinbar hilfsbedürftigen Mann, der von einem Schauspieler dargestellt wurde. Viele eilten vorbei – um pünktlich ihre Predigt über den barmherzigen Samariter zu halten, der bekanntlich stehenblieb und half.

Im Englischen konkurrieren zwei Sprichwörter miteinander: »It’s the thought that counts« und »Actions speak louder than words.« Für Stefan Einhorn zählen die Taten. Nicht die fiktiv Geretteten aus Gedankenexperimenten, und schon gar nicht das folgenlose Value-Washing.