begreif.bar

Anschauung

Es ging ihr vor allem um Gerechtigkeit. Dass alle anderen Kinder Osterferien und Sommerferien und Weihnachtsferien bekommen, fand Pippilotta Viktualia ungerecht, und so beschloss sie, in die Schule zu gehen. Dort platzte sie in den Mathematikunterricht: »Gustav hat mit seinen Freunden einen Schulausflug gemacht. Er hatte eine Krone, als er abfuhr, und sieben Öre, als er zurückkam. Wie viel hat er verbraucht?«, fragte die nette Lehrerin. »›Ja, gewiss‹, sagte Pippi, ›und dann möchte ich wissen, warum er so verschwenderisch war und ob er Limonade gekauft hat und ob er sich die Ohren richtig gewaschen hat, bevor er von zu Hause wegging.‹ Die Lehrerin beschloss, das Rechnen aufzugeben.«

Moderne Schulbücher sind bunt und anschaulich. Pippi könnte die Kleidung von Gustav und seinen Freunden bewundern und mit guten Augen auch Hinweise auf das Hygieneverhalten und mögliche Limonadenflecken erkennen. Doch lenkt das den Fokus auf die mathematische Fragestellung? »Es zeigt sich nachdrücklich, dass Schüler sehr oft anderes, für sie wesentliches aus den in Schulbüchern verwendeten Bildern herauslesen, als von Autor und Lehrer gemeint war. Und selten dabei das Mathematische«, schreibt der Mathematikdidaktiker Jens Holger Lorenz in seinem Buch »Anschauung und Veranschaulichungsmittel im Mathematikunterricht. Mentales und visuelles Operieren und Rechenleistung«.

Anschauung wird als inneres Sehen oder Visualisieren verstanden. »Die Visualisierung sollte beim Kind bewirken, dass die in einer konkreten Situation naheliegenden Handlungen (Tiere streicheln, Farbe des Fells bestimmen, füttern, wegjagen etc.) nicht beachtet werden, sondern günstigere, im Sinne der Lösung angemessenere.«

Woran liegt es, dass einige Kinder diese Vorstellungsbilder nicht generieren? »Diejenigen Schüler, die große Schwierigkeiten bei der Entwicklung einer Vorstellung haben, fallen in zwei Untergruppen. Zu der einen gehören jene Schüler, die eine bei ihnen entstandene Vorstellung nicht lange im Gedächtnis behalten können. Zur anderen Untergruppe gehören jene Schüler, die zwar keine Schwierigkeiten haben, nach einer Darstellung (Zeichnung, Schema, Diagramm) eine Vorstellung zu entwickeln, doch können sie diese nicht verändern. Im Unterschied zur ersten Untergruppe haben sie genaue statische Vorstellungen, doch können sie in Gedanken nicht den ganzen Weg ihrer Umgestaltung verfolgen, wenn das von der Aufgabenbedingung gefordert ist.«

Ziel des Mathematikunterrichts ist es, dass Zahlen und Operationen durch innere Bilder repräsentiert werden. Von den Schüler*innen werden sie aktiv konstruiert und stellen kein Abbild der Wirklichkeit dar. Sie sind schematisch und abstrakt und konzentrieren sich auf den wesentlichen mathematischen Aspekt. Und sie sind dynamisch: Gustav gibt sein Geld dem Limonadenverkäufer, bekommt eine Limonade und das Wechselgeld zurück.