unlehr.bar
kritisches Denken
Lässt sich kritisches Denken unterrichten? Oder wäre das so paradox wie die Aufforderung »Sei spontan!«, die nicht befolgt werden darf, um befolgt zu werden? André Sebastiani ist Vorsitzender der »Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften« und Referent für Mediendidaktik bei der Senatorin für Bildung und Kinder in Bremen.
Er beschäftigt sich mit dem kritischen Denken in der Schule: Dabei handele es sich um die komplexen kognitiven Fähigkeiten,
wichtige Fragestellungen zu identifizieren
relevante Informationen zu sammeln
logische Schlüsse zur Beantwortung zu ziehen
dabei Denkfehler zu vermeiden
problematische Annahmen und Vorurteile zu hinterfragen
mehrere Perspektiven zu berücksichtigen
problematische psychische Tendenzen zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken
Als Beispiel nennt André Sebastian Textaufgaben im Mathematikunterricht, von denen oft nur die Oberfläche betrachtet werden. Besonders deutlich wird dies bei sogenannten Kapitänsaufgaben. Die Mathematikerin Stella Baruk beschrieb in ihrem Buch »Wie alt ist der Kapitän? Über den Irrtum in der Mathematik« diese Aufgaben:
»Eines schönen Tages im Jahr 1980 hat sich das folgende kleine Ereignis zugetragen. In einer Arbeitsgruppe über Elementarunterricht im IREM (Institut de recherche sur l’enseignement des mathématiques) von Grenoble hatte jemand die Idee, Kindern aus der zweiten und dritten Klasse die folgende Frage vorzulegen: ›Auf einem Schiff befinden sich 26 Schafe und 10 Ziegen. Wie alt ist der Kapitän?‹ Von den 97 befragten Schülern haben 76 auf die Frage so geantwortet, dass sie die in der Aufgabe angegebenen Zahlen in irgendeiner Weise miteinander kombiniert haben.« Am ehesten wählten sie die Addition, denn 26+10=36 Jahre ist ein realistischeres Alter für einen Kapitän als 26-10=16 Jahre oder 26×10=260 Jahre. 26 ist nicht durch 10 teilbar, so dass die Divsion ausschied.
Die Mathematikdidaktiker Hartmut Spiegel und Christoph Selter schreiben über eine Erhebung an 300 Kindern: »Während von den Kindergartenkindern bwz. den Erstklässlern nur etwa 10% der Kapitänsaufgaben ›gelöst‹ wurden, lagen die entsprechenden Prozentsätze bei den Schülern des 2. Schuljahres (etwa 30%) sowie der 3. bzw. 4. Klasse (zwischen 54 und 71%) ungleich höher.« Das kritische Denken nahm im Laufe der Grundschulzeit sogar ab.
Allerdings stellen sie die Frage, wie diese Kinder sich verhalten würden, wenn die Aufgaben nicht im Schulunterricht von Erwachsenen, sondern am Nachmittag von Gleichaltrigen gestellt würden. Die Untersuchung wurde unter veränderten Bedingungen wiederholt. »Bevor den Kindern die Aufgaben vorgelegt wurden, wurde ihnen gesagt, dass einige der Aufgaben lösbar sein würden, andere nicht.« Nun sagten deutlich mehr Schüler*innen, dass die Aufgaben unlösbar seien. »Vielen Kindern war klar, dass sie die Zahlenangaben eigentlich nicht miteinander verknüpfen durften. Andererseits, so ihre Überlegung, musste die Lösung irgendwo im Text versteckt sein. Denn die Schülerinnen und Schüler hatten gelernt, dass im Mathematikunterricht jede Aufgabe eine Lösung hat: ›Eigentlich kann das nicht stimmen. Aber sonst kann man ja nichts rechnen!‹«
Auf Nachfrage erklärten die Kinder ihren Rechenweg: »Ich habe alle Schafe und alle Ziegen zusammengezählt. Und dann bekam ich die Antwort. Aber ich fürchte, dass es eine Scherzfrage ist – sozusagen wie auch alle anderen Aufgaben, die wir in der Schule machen.«
Der Zusammenhang zwischen dem Alter und der Anzahl von Geschenken ist durchaus einleuchtend: »Wenn man Geburtstag hat, schenkt man 30 Rosen oder eben halt 10 Ziegen und 26 Schafe. Dann habe ich es zusammengezählt. Und dann habe ich beschlossen, dass der Kapitän 36 Jahre als ist. PS: Alles Gute!«
Holger Dambeck schrieb 2012 im SPIEGEL: »Warum das so ist, wissen Pädagogen mittlerweile. Im Unterricht werden Textaufgaben intensiv geübt. Die Texte selbst sind meist belanglos und haben mit dem tatsächlichen Leben der Kinder wenig zu tun. Wozu sollen sie die Aufgabe dann genau lesen, wenn sie ja immer wieder nur Zahlen in eine Gleichung einsetzen? In der Regel ist bei den Textaufgaben zudem jene Rechenoperation gefragt, die gerade im Unterricht besprochen wurde. Und in den Aufgaben wird nicht nach dem Sinn gefragt, sondern nach einer Zahl. Das haben die Schüler im Unterricht schnell verinnerlicht. Die Kinder verhalten sich so, wie es von ihnen erwartet wird. Wenn sie merken, dass bei den Aufgaben etwas nicht stimmen kann, rechnen sie trotzdem weiter.«
Stella Baruk versuchte immer wieder zu erklären, dass es nicht darum gehe, die Kinder hereinzulegen – im Gegenteil: »Jedesmal, wenn ich in einem Vortrag von dieser Untersuchung berichte, war ich verblüfft über die heftigen Reaktionen von einigen Teilnehmern, meist Lehrern: ›So was darf man doch nicht machen‹, ›Das ist Machtmissbrauch‹, ›Eine Schande, Kindern so was anzutun‹, ›Ja, wo bleibt die Standespflicht‹ usw. Völlig überrascht von der Aggressivität und Vehemenz dieser Äußerungen habe ich zunächst versucht, die Tautologie zu zeigen, die in der immer wieder vorgebrachten Erklärung steckt: ›Die Kinder haben doch gar nicht die Mittel, das zu verstehen‹; ich schlug mich damit herum, klarzumachen, dass diese Untersuchung bei den Kindern ja keinerlei Schaden verursacht hat, sondern lediglich den Schaden aufdeckt, der ihnen bereits zugefügt worden ist.«