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Kopfball
Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim greift das verstärkte Fußballinteresse auf und beschäftigt sich in einem Video mit dem Thema »Fußball und Hirnschäden: Chronisch-Traumatische Enzephalopathie«. Sie zitiert die FIELD-Studie (Football’s Influence on Lifelong health and dementia risk), befürchtet ein erhöhtes Demenzrisiko und plädiert für ein Kopfballverbot.
Auch der Neurowissenschaftler Henning Beck stellt sich diese Frage: »Doch ist unser Gehirn wirklich ein Todes-Gewebe, das kurz nach der Geburt in voller Blüte erstrahlt und dann dahinsiecht? Sterben die Nervenzellen wirklich ab und werden nie ersetzt? Und wie viele Kopfbälle sind eigentlich gesund pro Tag?« Der Titel »Hirnrissig. Die 20,5 größten Neuromythen und wie unser Gehirn wirklich tickt« deutet an, dass Henning Beck diese Sorge mildert. Zwar bezeichnet er die Nervenzellen als »postmitotisch« – sie haben die Zellteilung abgeschlossen, können sich nicht mehr vermehren und werden nicht ersetzt, wenn sie absterben. Das tun sie ständig: »Denn selbst wenn Studien zeigen, dass wir täglich etwa 85 000 Nervenzellen in der Großhirnrinde verlieren, heißt das noch nicht, dass unser Leben einer einzigen Verblödung gleichkäme. Angesichts der Milliarden von Nervenzellen in unserem Hirn verlieren wir nur einen Bruchteil unserer Zellen.« Das ist beruhigend. Außerdem sei die Anzahl der Zellen weniger wichtig als deren Verknüpfung.
Doch wie wirkt sich das Fußballspielen auf diese Verknüpfungen aus? »Wissenschaftler wollen ja immer alles messen, also gibt es natürlich auch Untersuchungen, wie sich das Kopfballverhalten von Fußballern auf die Hirnstruktur auswirkt. Und siehe da: Köpft man mindestens 885 Mal pro Jahr für mehr als 20 Jahre, verschlechtert sich die Vernetzung im seitlichen und rückseitigen Großhirnbereich. Ganz schlimm wird es ab 1800 Kopfbällen pro Jahr, dann sinkt zusätzlich die Erinnerungsfähigkeit signifikant.«
Boris Nikolai Konrad ist Gedächtnisweltmeister, doch er beschäftigt sich mit Menschen ohne Gedächtnis, denn nichts anderes als »ohne Gedächtnis« bedeutet das griechische Wort »Amnesie«. Er unterscheidet zwischen der temporären und der transienten globalen Amnesie. Die temporäre Amnesie tritt häufiger auf, etwa nach einem Vollrausch. Bei der transienten globalen Amnesie sind das Kurzzeitgedächtnis und das prozedurale Gedächtnis nicht beeinträchtigt, doch die Betroffenen wirken verwirrt. Eine Gehirnerschütterung kann die Ursache sein und besonders berühmt wurde der Fußballweltmeister Christoph Kramer, der sich nicht daran erinnern kann, wie er Fußballweltmeister wurde. Das lag nicht an einem Kopfball, sondern an dem Schlag eines Ellenbogens gegen seinen Kopf. Anschließend konnte er zwar weiterspielen, fragte aber den Schiedsrichter, ob es sich ums Endspiel handele. Dies wird auch als kongrade Amnesie bezeichnet, da sich Christoph Kramer an die Zeit vor und nach den Schlag auf den Kopf erinnert. Die Erinnerung an die Lücke bleibt für ihn jedoch verloren, und um sie zu schließen, musste er sich die Aufzeichnungen vom Endspiel ansehen.
Für langfristige Folgen gibt Henning Beck Entwarnung: Die Hirnleistung zwischen Ex-Fußballern und Nicht-Fußballern unterscheide sich wenig. Die Effekte seien reversibel. »Die Pflege der Hirnfunktionen ist also keine gute Ausrede für Unsportlichkeit, muss ich die Couchpotatoes unter Ihnen enttäuschen.«