verjähr.bar
lebenslanges Lernen
Hans hat ein Imageproblem. Verglichen mit dem kleinen Hänschen werden seine Fähigkeiten, Neues zu lernen, konsequent unterschätzt. Das Sprichwort vom unbelehrbaren Hans wird Martin Luther zugeschrieben, doch zum Glück hat die Hirnforschung seitdem beachtliche Fortschritte gemacht.
Der Neurowissenschaftler Henning Beck schrieb etwa 500 Jahre später: »Tatsächlich herrscht die Meinung vor, dass es immer schwieriger wird, sich im Alter noch neue Fertigkeiten anzueignen. Die Warnung dazu ist unmissverständlich: ›Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr‹ – also aufgepasst, ihr jungen Leute, verpasst bloß nicht den kritischen Zeitpunkt, um Französisch, Saxophon oder Hammerwerfen zu lernen. Einmal zu spät, kann man später nur noch mit Mühe das aufholen, was am Anfang des Lebens versäumt wurde.«
Dass Martin Luther weder Saxophon noch Hammerwerfen erlernt hat, mag daran liegen, dass das Saxophon erst im Jahr 1840 erfunden wurde und das Hammerwerfen ebenfalls im 19. Jahrhundert. Außerdem wird der Glaube, etwas nicht lernen zu können, leicht zur selbsterfüllenden Prophezeiung. »Oft wird auch das Bild vom ›Zeitfenster‹ bemüht, das beschreiben soll, dass es nur einen kurzen Zeitraum gibt, in dem man sich bestimmte Dingen aneignen könne. Ein kindliches Gehirn (aufnahmefähig wie ein Schwamm soll es sein) könne nahezu alles lernen, doch wenn einmal das kritische Zeitfenster zuklappt: Zack! Zu spät, kaum noch eine Chance für einen Erwachsenen, den Rückstand aufzuholen.«
Ein solches Zeitfenster existiert tatsächlich beim Spracherwerb. »Es beginnt damit, dass das Gehirn zwischen verschiedenen Lauten unterscheiden muss. Obwohl es nämlich einige Tausend Sprachen gibt, existieren nur etwa 70 verschiedene Laute, aus denen sich diese Sprachen zusammensetzen. In den ersten sechs Monaten macht ein Baby keinen Unterschied zwischen diesen unterschiedlichen Sprachbausteinen und ist prinzipiell in der Lage, alle Sprachen zu lernen. Das ändert sich jedoch schnell.«
Es bleibt allerdings möglich, weitere Sprachen zu lernen. »Für eine Zweitsprache werden im Gehirn zusätzliche Hirnregionen aktiviert, die für die Muttersprache nicht nötig wären. Die Sprachzentren holen sich quasi externe Hilfe, um eine zweite Sprache verarbeiten zu können. Das heißt natürlich nicht, dass man eine neue Sprache nicht akzentfrei lernen kann, wenn man zu alt geworden ist. Doch im Alter lernt man eine Fremdsprache eben anders als ein Neugeborenes, das sich ein Sprachkonzept noch komplett ahnungslos von Grund auf erarbeiten muss. Eine Muttersprache wird deswegen immer anders verarbeitet werden als eine Fremdsprache, die man im Alter von 20 Jahren erlernt.«
Das Fazit von Henning Beck ist ermutigend. »Was Hänschen nicht lernt, kann Hans trotzdem lernen. Es mag ein bisschen länger dauern, doch prinzipiell ist es genauso gut möglich, im Alter eine neue Sprache oder ein Musikinstrument zu lernen wie in jungen Jahren, Lern-Zeitfenster hin oder her. Eines wird aber auch deutlich: Selbst wenn Hans neue Informationen prinzipiell lernen kann, tut er dies auf andere Weise als Hänschen. Gerade in den ersten Lebensjahren ist ein Gehirn besonders neugierig und verarbeitet neue Informationen völlig vorbehaltlos. Ein neues Wort? Eine neue Bewegung? Einfach ausprobieren, es gibt ja nichts zu verlieren.«