unvergleich.bar

Aufmerksamkeit

Die menschliche Aufmerksamkeitsspanne sei in den vergangenen Jahren geschrumpft, von zwölf Sekunden im Jahr 2000 auf acht Sekunden im Jahr 2013. Das wurde aus einer Studie von Microsoft Kanada abgeleitet, die viel Aufmerksamkeit erhielt. Mehr als nur acht Sekunden. Bei Texten solle diese Veränderung berücksichtigt werden.

Für einen plakativen Vergleich wurden Goldfische herangezogen, die uns ausstechen, weil sie sich angeblich für neun Sekunden konzentrieren können. Warum ausgerechnet Goldfische? Worauf konzentrieren sich Goldfische überhaupt und wie misst man das? Diese Fragen blieben offen, und so erinnert der Vergleich an Monty Python und die Erkenntnis, dass Pinguine intelligenter sind als Menschen. Die Begründung: Zwar ist das Gehirn von Menschen größer als das Gehirn von Pinguinen. Doch wären Pinguine über 20 Meter groß, hätten sie ein größeres Gehirn als Menschen.

Die Chemikerin und Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim berücksichtigt die Aufmerksamkeitsspanne ihres Publikums: Youtube-Werbung lässt sich erst nach 5 Sekunden wegklicken und strapaziert bereits die Geduld der Zuschauer*innen.

Einmal plante sie ein Video über CRIPR, die molekularbiologische Methode, um DNA zu schneiden und zu verändern. Das Video sollte 12 Minuten dauern und war dem Sender zu lang. So entstanden schließlich zwei kurze Videos, und das erste wurde wesentlich häufiger angesehen als die Fortsetzung. 12 Minuten waren also offensichtlich den meisten Youtube-Konsument*innen zu viel, und sie vergnügten sich lieber mit Katzenvideos. Oder Pinguinvideos. Oder spannenden Goldfischvideos.

Was ist in den vergangenen Jahrzehnten passiert? Das menschliche Gehirn ist nicht geschrumpft und noch immer größer als das Pinguingehirn. Doch die Verlockungen bei Youtube sind allgegenwärtig. Sobald die Aufmerksamkeit nachlässt, lockt attraktives Alternativprogramm mit und ohne Katzen.

In einem Vortragssaal wird das Publikum als selbstverständlich hingenommen. Die Stühle sind so arrangiert, dass alle in Richtung Bühne blicken und es schwierig ist, aufzustehen und zu gehen. Doch die Gedanken können abschweifen, vom Thema des Vortrags etwa zu Pinguinen, Katzen oder Goldfischen.

Mai Thi Nguyen-Kim erinnert sich selbstkritisch an einen Vortrag, den sie im Jahr 2012 mit einer Folie begann: »Thermoresponsive Microgel Particles as Colloidal Building Blocks for novel Suprastructures – Switchable geometric and chemical Anisotropy«. Inzwischen versetzt sie sich in die Perspektive des Publikums. Und ist Meisterin der reißerischen Trailer:

»Wissenschaftler – sozial und/oder emotional eingeschränkte Genies, die Mikroskope benutzen oder Formeln an Glasscheiben schreiben. Manchmal stehen sie auch vor Bücherregalen und erzählen unangenehme Dinge von Klimawandel oder Impfen. Aber sind Wissenschaftler auch Menschen? Haben sie ein Leben außerhalb des Labors? Haben sie etwa Hobbys oder gar Freunde?

Keiner weiß die Antwort – bis jetzt.«

In ihrem YouTube-Kanal »The Secret Life of Scientists« konnte sie damit die menschliche Aufmerksamkeit länger fesseln als die goldfischige.