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Raketenwissenschaft

Die beiden Filme kamen zeitgleich in die Kinos: »Oppenheimer« über den theoretischen Physiker Robert Oppenheimer und »Barbie« über Barbie. 1992 lernte sie sprechen und einer ihrer ersten Sätze war »Mathe ist schwer«. Im folgenden Jahr änderte sich Barbies Haltung und sie rief »Attacke« und »Die Rache ist mein!« Was war passiert?

Die »Barbie Liberation Organization« hatte heimlich die Sprachprogramme von Barbie und G.I. Joe vertauscht, um auf Geschlechterstereotype hinzuweisen. Joe überraschte mit Sätzen wie »Lass uns shoppen gehen« und »Kann man je genug Kleider haben?«

Ob G.I. Joe wartet, bis die Kleider im Sommerschlussverkauf reduziert sind und wie schwer es für ihn ist, die Ermäßigung auszurechnen, bleibt unklar. Warum Mädchen tatsächlich eher befürchten, Mathe wäre schwer, ist dagegen gut erforscht.

Die PISA-Studie zeigte große Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern. In Island beispielsweise schnitten Mädchen besser in Mathematik ab als ihre Mitschüler. Doch auch Schülerinnen mit guten Leistungen glaubten, dass sie »einfach nicht gut in Mathe« wären – selbst dann, wenn sie objektiv ebenso gut abgeschnitten hatten wie ihre Klassenkameraden. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung ergab: »Jungen schreiben sich im Schulfach Mathematik größere Fähigkeiten zu als Mädchen – in einem Ausmaß, das durch die tatsächlichen Schulnoten nicht gerechtfertigt ist.«

Inge Schwank ist Professorin für Kognitive Mathematik und erforschte, wie Jungen und Mädchen an mathematische Aufgaben herangehen. Im Jahr 1992, als Barbie über die Schwierigkeit von Mathe jammerte, erklärte sie der Tageszeitung taz: »Bevor Mädchen eine Rakete zum Mond schicken, sammeln sie erstmal alle verfügbaren Informationen und bauen sie in das Steuerungsprogramm ein. Jungen dagegen starten die Rakete sofort und versuchen unterwegs, den Kurs zu korrigieren.«

Eine Studie am Osnabrücker Forschungsinstitut für Mathematikdidaktik unterscheidet »begrifflich-prädikative« und »sequentiell-funktionale« Strategien. »›Ein Großteil der Mädchen ließ sich in die Kategorie ›begrifflich/prädikativ‹ einordnen – ging mathematische Probleme also im Gesamtzusammenhang an -, während die meisten Jungen ›sequentiell/funktional‹ die Probleme lösten – also möglichst schnell einen Lösungsprozeß in Gang setzten und erst im Nachhinein Teillösungen miteinander verketteten. Die Jungen haben schneller Erfolgserlebnisse, werden dadurch in ihrem Selbstbewusstsein gestärkt«

Beide Strategien seien völlig gleichwertig. »›Es ärgert mich ungeheuer, dass die Eigenschaften der Mädchen immer in eine negative Ecke gestellt werden‹, sagt Inge Schwank. ›Wenn Linkshänder Stoff immer mit einer Rechtshänderschere schneiden mussten und das ganze schief wurde, heißt das noch lange nicht, dass Linkshänder keinen Stoff schneiden können.‹«

Vom Anfang der vierten bis zum Ende der achten Klasse besuchte Inge Schwank eine Mädchenschule: »Hier fühlte ich mich gut aufgehoben und konnte eine sehr gute Schülerin sein, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen. Meine Mathematiklehrinnen und Mathematiklehrer waren durchgehend hervorragend und fanden es vollkommen normal, Mädchen in ihren individuellen Stärken zu fördern, mich eben in Mathematik.« (Der SPIEGEL 13.09.2019)

Ihren Studierenden will sie diese Normalität vermitteln: »Heute als Hochschullehrerin für Mathematik und ihre Didaktik ist es mir ein Anliegen, zukünftige Mathematiklehrkräfte so auszubilden, dass ihnen die Förderung von Mädchen und Jungen gleichermaßen gelingt und dass sie sich über – eventuell unbewusste – Vorurteile im Klaren werden.«

Korrekterweise hätte Barbie also sagen können: »Die begrifflich-prädikative Strategie entspricht eher meinen Denkstrukturen als die sequentiell-funktionale.« Und dann hätte sie Raketenwissenschaft studiert. Attacke!