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Interaktion

Die Unterscheidung zwischen Extraversion und Introversion ist das bekannteste von Carl Gustav Jungs Gegensatzpaaren. Vereinfacht ausgedrückt erholen sich Extravertierte in Gesellschaft vom Alleinsein und für Introvertierte ist es genau umgekehrt. Das ist eine Quelle häufiger Missverständnisse: Extravertierte gelten dann als oberflächlich, Introvertierte als schüchtern.

Um die Eigenart eines Menschen respektieren zu können, ist es nicht unbedingt nötig zu wissen, wo genau sich jemand auf dieser Dimension befindet. Es hilft bereits, solche Unterschiede überhaupt zu kennen und in Betracht zu ziehen.

Die Dimension Extraversion/Introversion ist eine gründlich untersuchte Persönlichkeitsdimension und wesentlich für das Wohlbefinden. Eine biologische Erklärung geht davon aus, dass sich das Erregungsniveau unterscheidet: Menschen mit einem hohen Wert für Extraversion haben ein niedriges Erregungsniveau, das sie anzuheben versuchen. Umgekehrt neigen Introvertierte dazu, stark stimulierende Umgebungen zu meiden.

Der Harvard-Professor Brian Little weiß, wovon er spricht: »Als lebenslänglich biogen Introvertierter leide ich schnell unter Reizüberflutung und reagiere besonders empfindlich auf verschiedene Formen sozialer Stimulation.« Regelmäßig hielt er Gastvorträge am Royal Military College in Québec: »Um meine Zuhörer zu fesseln, müssen meine Vorlesung temporeich, intensiv und interaktiv sein – kurz, äußerst extravertiert. Das bedeutet, dass ich mich nach meinem morgendlichen Vortrag am Royal Military College immer in einem Zustand der Übererregung befand, weit oberhalb des optimalen Niveaus für eine klar verständliche und erhellende Vorlesung. Dann gab es Mittagessen. Gerade wenn ich dringend mein Erregungsniveau senken wollte, luden mich die Offiziere prompt in die Offiziersmesse ein.«

Auf dem Richelieu River fuhren Schiffe vorbei und Brian Little nutzte sie als Rettungsboote bei drohender Reizüberflutung: »Ich gab vor, mich brennend für die verschiedenen Wasserfahrzeuge zu interessieren, die auf dem Richelieu unterwegs waren, doch natürlich hatte ich vor allem eins im Sinn: mein Arousal dämpfen. Mit dieser Strategie hatte ich mehrere Jahre Erfolg: doch dann wurde der Campus an einen anderen Ort verlegt, und der Fluss blieb, wo er war. Also musste ich für die nachfolgenden Termine eine neue Nische finden, einen anderen Platz, um mein Erregungsniveau zu senken.«

Die Wahrnehmungsskala mit den beiden entgegengesetzten Ausrichtungen S (für sinnliche Wahrnehmung) und N (für intuitive Wahrnehmung) korreliert nicht mit Introversion und Extraversion.

Auf der Grundlage dieser beiden Skalen sind also bereits 4 Kombinationen möglich:

Extraversion + sinnliche Wahrnehmung (ES)

Extraversion + intuitive Wahrnehmung (EN)

Introversion + sinnliche Wahrnehmung (IS)

Introversion + intuitive Wahrnehmung (IN)

Doch beruht menschliches Verhalten tatsächlich auf stabilen Persönlichkeitsunterschieden oder hängt es eher von der jeweiligen Situation ab? Nachdem sich Brian Little von seinem anstrengenden Vorlesungsmarathon erholt hatte, schrieb er: »Der durchschnittliche Grad einer Merkmalsausprägung variiert tatsächlich je nach Situation. Aber der Rangplatz in der Merkmalsausprägung – wo man sich im Hinblick auf ein bestimmtes Merkmal im Vergleich zu anderen Personen in einer gegebenen Situation befindet – ist erstaunlich stabil. Die Schülerin, die auf der Grundschule der Klassenclown war, wird ihren Übermut dreißig Jahre später wohl zu zügeln wissen, so wie auch ihre Klassenkameraden ihr Maß an Extravertiertheit heruntergeschraubt haben. Doch beim Klassentreffen ist sie nach wie vor ein Clown – ein gereifter, gemäßigter und stilvollerer Störenfried zwar, aber nach wie vor übermäßig extravertiert.«

Und Brian Little selbst sucht noch immer nach guten Ausreden, um dem geselligen Mittagessen fernzubleiben.

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