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falsche Erinnerungen
»Ich glaube nur, was ich sehe«, ist ein Spruch, mit dem das eigene kritische Denken demonstriert werden soll. Wer jedoch Julia Shaws Buch »Das trügerische Gedächtnis. Wie unser Gehirn Erinnerungen fälscht« liest, glaubt nicht einmal mehr das, was scheinbar mit eigenen Augen gesehen wurde.
Erinnerungsfehler sind für die Rechtspsychologin Julia Shaw eher die Norm als die Ausnahme: »Unser Gehirn setzt Informationsbruchstücke so zusammen, dass sie für uns sinnvoll werden und sich daher wie echte Erinnerungen anfühlen. Das ist keine bewusste Entscheidung seitens der Person, die sich erinnert, sondern passiert automatisch. Zwei der wichtigsten Prozesse, durch die das geschieht, nennt man Konfabulation und Quellenverwechslung.«
Konfabulation bezeichnet das Auftauchen von Erinnerungen an Ereignisse, die nie stattgefunden haben. Quellenverwechslung bedeutet, dass wir die Quelle einer Information vergessen und glauben, uns an das zu erinnern, was uns erzählt wurde.
Das erklärt, warum manche Menschen glauben, sich an ihre Babyzeit zu erinnern. Durch die sogenannte infantile Amnesie können in der frühen Kindheit keine Erinnerungen gebildet werden, die bis ins Erwachsenenalter erhalten bleiben. Der Begriff wurde bereits im Jahr 1893 von der Psychologin Caroline Miles geprägt. Sie vermutete, die frühesten Erinnerungen fallen in die Zeit zwischen dem zweiten und dem vierten Lebensjahr. »Wir wissen, dass Teile des Gehirns, die für das Langzeitgedächtnis zuständig sind, wie etwa ein Teil des Frontallappens und des Hippocampus, um den achten oder neunten Monat herum zu reifen beginnen, daher ist es vorher für Säuglinge unmöglich, sich Erinnerungen für mehr als etwa 30 Sekunden zu merken.«
Wenn es um schöne Kindheitserlebnisse geht, die so gar nicht stattgefunden haben oder durch Fotos und Erzählungen rekonstruiert wurden, sind harmlos. Doch im Gerichtssaal sind falsche Erinnerungen fatal. »Die Folgen solcher falschen Erinnerungen können sehr real sein. Wenn wir an grundsätzlich fiktionale Repräsentationen der Wirklichkeit glauben, kann das alles und jedes in unserem persönlichen Leben betreffen. Es hat das Potenzial, echte Freude, echten Kummer und sogar ein echtes Trauma zu verursachen. Wenn wir unsere fehlerhaften Erinnerungsprozesse verstehen, kann uns das daher helfen, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie wir die in unserem Gedächtnis enthaltenen Informationen bewerten können.«
Für Julia Shaw kommt hierbei die Wissenschaft ins Spiel: »Im Laufe der Jahre, die ich der Gedächtnisforschung gewidmet habe, bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass wir die Welt auf zutiefsts unvollkommene Weise sehen. Das wiederum hat mir großen Respekt für die Methoden der Wissenschaft und die gemeinsame Forschung eingeflößt – für die Wissenschaft als Gemeinschaftsunternehmen. Sie bietet die besten Aussichten dafür, dass wir durch den Schleier unserer unvollkommenen Wahrnehmungen hindurchschauen und verstehen können, wie das Gedächtnis funktioniert.«