unverwechsel.bar

Qualität

Ein Wintermorgen in Washington D. C.

Joshua Bell trägt auf seiner Stradivari Werke von Johann Sebastian Bach vor. Einer der besten Geiger der Welt spielt also mit einer der besten Geigen der Welt Stücke von einem der besten Komponisten der Welt.

Doch es ist kein Weltklassekonzert für zahlende Besucher*innen, sondern ein Experiment der Washington Post: Mit der Baseballkappe auf dem Kopf wirkt Joshua Bell in der U-Bahn-Station L’Enfant Plaza nicht wie ein Weltstar. Eine versteckte Kamera filmt 1097 Passant*innen, von denen nur 7 stehenbleiben und zuhören. Am Ende des Experiments liegen 32,17$ im Geigenkasten des berühmten Straßenmusikers.

Der Journalist Gene Weingarten nennt seinen Artikel »Pearls before Breakfast«, in Anspielung auf das Bibelzitat, Perlen vor die Säue zu werfen. Er zitiert Gottfried Leibniz, der Schönheit für objektiv und messbar hielt und David Hume, für den sie nur eine subjektive Meinung war. Und er befragt Mark Leithauser von der National Gallery of Art zur Bedeutung von Bilderrahmen für die Kunst. Ohne den passenden Rahmen seien auch Kunstexpert*innen überfordert, den Wert eines Werks zu erkennen.

Häufig wird das Experiment als Beispiel für die Achtlosigkeit zitiert, mit der wir im Alltag die Schönheiten der Welt verpassen. Tatsächlich fehlt vielen Pendler*innen auf dem Weg zur Arbeit die Zeit, stehenzubleiben und einem Straßenmusiker zuzuhören, egal wie gut er ist. Für ein Konzert dagegen nehmen sie sich Zeit und schalten das Handy und andere Ablenkungen aus. Ein weiterer Unterschied ist allerdings der Eintrittspreis: Wer kostenlos in einer U-Bahn-Station spielt, kann nicht besonders gut sein, so die Logik. Eintrittskarten für einen dreistelligen Betrag dagegen scheinen Garanten für einen echten Star zu sein.

Die Bewertung der Virtuosität wird delegiert, so als müsste man Konzertveranstalter*innen und Musikkritiker*innen erst fragen »Gefällt mir die Musik?«, um es selbst zu wissen.

Diese Qualitätsblindheit beschränkt sich nicht auf Musik und Kunst: Der kalifornische Statistiker Robert Hodgson stellte fest, dass angebliche Weinkenner*innen im Blindversuch ihr Urteil teilweise völlig zufällig abgaben, und der französische Weinexperte Frédéric Brochet konnte zeigen, dass manche einen Weißwein mit Adjektiven wie »blumig«und »fruchtig« beschrieben, doch als »holzig« und »dunkel« empfanden, sobald er mit Lebensmittelfarbe rot gefärbt war. Noch extremer schwankte die Bewertung, wenn ein angeblicher Preis genannt wurde: Der Geschmackstest ergab Spitzenwerte, wenn es sich angeblich um einen Spitzenwein handelte, doch derselbe Wein schmeckte nicht, wenn er angeblich billig war.