kultivier.bar

Balanceakt

Wir röntgen, wir pasteurisieren, wir sprechen von der Celsius-Skala und der kopernikanischen Wende: Manche Wissenschaftler*innen haben es sogar bis in unsere Alltagssprache geschafft.

Der Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun bekam zwar kein eigenes Verb, aber sein Name steht für das von ihm entwickelte Kommunikationsquadrat. Kaum ein Vortrag oder Seminar über Kommunikation kommt ohne seine Erwähnung aus. Viele winken ab, sobald sein Name fällt: »Schulz von Thun kenne ich doch schon!«

Ausführlich beschreibt er das Kommunikationsquadrat in seinem populärwissenschaftlichen Buch »Miteinander reden 1 – Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation«. Weniger bekannt ist der zweite Band »Miteinander reden 2 – Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Differentielle Psychologie der Kommunikation.«

Auch dieses Buch handelt von einem Quadrat, nämlich vom sogenannten Wertequadrat. Die Bedeutung für seine Kommunikationskurse vergleicht Schulz von Thun mit jenem radikalen Perspektivenwechsel im Denken, den der Mathematiker und Astronom Nikolaus Kopernikus im 16. Jahrhundert ausgelöst hat: Entwicklung bedeute nicht, vom Schlechten zum Guten zu wechseln, sondern vom Übermaß eines Guten zur komplementären Schwesterntugend, die noch unterentwickelt ist. »Und wir sehen plötzlich, die Entwicklungsrichtungen von Menschen überkreuzen sich: Was der eine dringend braucht, hat der andere zu viel.«

Anschaulich lassen sich diese Entwicklungsrichtungen am Beispiel von Nähe und Distanz im Beruf erklären. Nähe ermöglicht Vertrauen und Verbundenheit. Wer sie übertreibt, verstrickt sich leicht in Beziehungen und verwischt Grenzen. Distanz wiederum sichert Klarheit und Objektivität. Aber auch hier droht bei Übertreibung die Kehrseite: Kälte, Abschottung und der Verlust der Menschlichkeit.

Das Wertequadrat lehrt, nicht von einem Extrem ins andere zu fallen. Es macht sichtbar, dass Entwicklung darin liegt, das komplementäre Wertegegenstück zu entwickeln. Wer zu übertriebener Nähe neigt, kann Distanz kultivieren. Wer sich zu sehr auf Distanz hält, kann Nähe als Entwicklungsrichtung entdecken.

Anstatt Verhalten wie mit Schulnoten als sehr gut oder ungenügend zu bewerten, geht es um die ausgehaltene Spannung zu einem Gegenwert. Zu viel des Guten lässt jeden Wert zu einem Unwert verkommen. Gesucht wird also ein Wertegegenspieler.

So wie Kopernikus unser Weltbild revolutionierte, eröffnet das Wertequadrat eine neue Sicht auf Werte und Persönlichkeitsentwicklung.