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Stress

Die Sympathien sind klar verteilt zwischen dem grauen Raubtier und dem kleinen Mädchen. Generationen von Kindern haben mit Rotkäppchen mitgefiebert und kein Mitgefühl für den Wolf gezeigt.

Der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer betrachtet das Märchen wissenschaftlich und emotionslos: »Im Grunde genommen sind Rotkäppchen und der Wolf doch zwei natürliche Wesen, die in ihrem jeweiligen Lebensvollzug für sich genommen stressfrei existieren könnten. Erst durch die schicksalhafte Verkettung von Lebenswegen kommt es zum Stress.«

Wölfe seien nun mal keine Vegetarier, und ein Mangel von tierischem Eiweiß verursache Aggressionen. Rotkäppchen dagegen trägt Nahrung in ihrem Korb, erfreut sich an der schönen Natur und bewegt sich ausreichend an der frischen Luft. »Was will uns das Märchen also sagen? Nicht die objektiven Umstände – ein großer starker, zotteliger Körper mit scharfen Krallen und spitzen Zähnen auf der einen und ein kleines, schwaches Mädchen auf der anderen Seite – sind relevant für die langfristige Gesundheit, sondern das subjektive Erleben des jeweiligen Individuums.«

Ein Märchen eignet sich nicht für wissenschaftliche Überprüfung, und auch Wölfe lassen sich schwer als Versuchskaninchen anwerben. Bei 125 Menschen dagegen genügte ein Honorar von 60 Dollar, um sie für einen Stress-Provokationstest zu gewinnen. Dafür mussten sie zunächst vor desinteressiertem Publikum eine freie Rede halten und anschließend unter Zeitdruck Kopfrechenaufgaben lösen. Anders als der Wolf hatten sie keinen Hunger zu befürchten, sondern die Gefahr, sich zu blamieren. Außerdem wurden ihnen Fragen zur sozialen Unterstützung gestellt. Das Resultat überrascht nicht: Je mehr Unterstützung jemand bekommt, desto geringer ist der Stress. Schlechte Nachrichten für den einsamen Wolf. 

Der »Stressreport Deutschland« vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales kam zu alarmierenden Ergebnissen: »Die Zahlen zeigen, dass die psychische Gesundheit am Arbeitsplatz kein Randthema ist: 2012 waren in Deutschland psychische Störungen für mehr als 53 Millionen Krankheitstage verantwortlich.« Im Stressreport geht es um Arbeitsbedingungen, die sich positiv oder negativ auf die Gesundheit auswirken. »Die Art, wie der Chef mit seinen Leuten umgeht, wird damit eindeutig zum Einflussfaktor für die Mitarbeitergesundheit. Ein guter Chef – also einer, der seine Aufgabe ernst nimmt und nicht nur seinen Narzissmus auslebt – gibt soziale Unterstützung, bezieht die Mitarbeiter in Entscheidungen mit ein und zeigt ihnen seine Anerkennung und Wertschätzung. Wie entsprechende Mitarbeiterbefragungen und Daten für Deutschland im europäischen Vergleich zeigen, gibt es gerade hierzulande noch deutlichen Raum für Verbesserungen.«

Manfred Spitzer sieht in einer »miserablen Kommunikation« einen wesentlichen Grund für Stress und plädiert für Wein als Gegenmittel: »Im Hinblick auf  die Gesundheit der Mitarbeiter wäre das Einschenken von reinem Wein und die Einbeziehung der Mitarbeiter bei jeglichen Veränderungsmaßnahmen nicht nur gesundheitsförderlich, sondern auch schlau im Hinblick auf die Zukunft des Unternehmens. Denn eigentlich kann es sich auch der beste Manager nicht leisten, auf die Erfahrungen seiner Mitarbeiter gerade bei wichtigen Entscheidungen zu verzichten. Aber die meisten sind zu schwach und/oder zu faul, um Gespräche zu führen, zuzuhören und Alternativen abzuwägen.«

Den (reinen) Wein kann immerhin Rotkäppchen beisteuern.