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Lernen und Vergessen

Die Schulglocke trennt Unterrichtsstunden und Pausen voneinander. Dadurch entsteht der Eindruck, dass es neben den Zeiten des Lernens auch Zeiten des Nichtlernens gäbe. Der Neurowissenschaftler Henning Beck widerspricht dieser Vorstellung. »Lernen passiert offenbar ständig, auch dann, wenn wir es gar nicht beabsichtigen. Viele stellen sich vor, dass man für das Lernen ein geschütztes Umfeld schaffen muss, in dem man den Wissenserwerb besonders effizient gestaltet. Gelernt wird in einem Klassenzimmer oder in einem Schulungsraum, man setzt sich an den Schreibtisch, um zu lernen, oder man nimmt sich abends noch ein paar Stunden, um den Lernstoff durchzugehen.«

Der Grund für diese Fehlvorstellung sei eine eingeschränkte Definition von Lernen: »Lernen ist nicht das perfekte Abspeichern von Informationen. Leider liegt vielen Lerntechniken genau ein solches Denken zugrunde. Da wird erklärt, wie man in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Fakten ins Gehirn bekommt, damit man für die nächste Prüfung gerüstet ist. Doch Lernen darf man nicht mit Üben oder Trainieren verwechseln.«

Es ist nicht das Ziel des Lernens, möglichst viele Informationen zu speichern, sondern ein Gleichgewicht zwischen Erinnern und Vergessen. »Je abwechslungsreicher die Welt um uns herum, desto wichtiger ist es, dass man Dinge auch vergisst. Die aktuellen Modelle der Lernwissenschaft gehen sogar davon aus, dass lernende Systeme nur möglich sind, weil sie auch vergessen. So paradox es klingen mag: Neue Nervenzellen im Gehirn sind kein Zeichen dafür, dass man neue Erinnerungen aufbaut. Im Gegenteil, neue Nervenzellen sind wichtig, damit man Altes vergessen kann. Nur dadurch ist es möglich, überhaupt Neues zu lernen.«

Das Vergessen hilft dabei, offen für die Welt zu bleiben. »Noch einen anderen Vorteil bringt das Vergessen mit sich. Es verhindert, dass unser Lernsystem irgendwann überfordert und ausgebremst wird. Clevere Gehirne sind in der Lage, schnell das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen und sich nur an das Wesentliche zu erinnern. Denn Lernen bedeutet, Wissen anwenden zu können. Es nur zu speichern wäre viel zu wenig.«

Während Erinnerungen aus der Vergangenheit stammen, bezieht sich die Anwendung auf die Zukunft: »Der Sinn unseres Gedächtnisses besteht gar nicht darin, das wiederzugeben, was schon war. Er besteht vielmehr darin, dass man im Hier und Jetzt gute Entscheidungen für die Zukunft treffen kann. Wer hingegen nur zurückschaut, perfekt und fehlerfrei, sieht vielleicht nicht, was auf ihn zukommt. Er kann die Vergangenheit korrekt wiedergeben – aber damit etwas Sinnvolles anzufangen, erfordert noch ein bisschen mehr.«