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Lernen und Verstehen
»Ist Lernen noch zeitgemäß?«, fragt der Neurowissenschaftler Henning Beck in seinem Buch. »Wenn man alles Wissen überall googeln kann, wozu soll man dann noch etwas lernen?« Und weil Büchern ganz unzeitgemäß die Fähigkeit zur Interaktion fehlt, antwortet er sich selbst: »Wenn das Lernen wirklich darin besteht, eine Menge an eintreffenden Informationen auszuwerten und abzuspeichern, werden wir, so die beunruhigende Prophezeiung, bestimmt schon bald gegen maschinelles Lernen verlieren.«
Doch weil Bücher gerne zum Einschlafen gelesen werden und deshalb nicht aufrütteln sollten, beruhigt er seine Leser*innen. »Keine Sorge. Lernen ist ja schön und gut, aber es ist überhaupt nichts Besonderes. Alle möglichen Lebewesen tun es: Hühnchen lernen, Tiger lernen, Pottwale lernen, sogar Computer lernen – nur wir Menschen, wir können verstehen.«
Lernen ist auch ohne Verstehen möglich, aber Verstehen nicht ohne Lernen. »Natürlich ist Lernen nicht genug, sonst sollten wir wirklich Angst vor selbstlernenden Algorithmen und künstlicher Intelligenz haben.«
Dem Verstehen wurde in der Vergangenheit erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt. »Sie können Hunderte Bücher kaufen, in denen erklärt wird, wie man besser lernt. Es gibt haufenweise didaktische und pädagogische Konzepte, unterschiedliche Schulformen und Bildungsideale – mit dem eigentlichen Verstehen beschäftigt man sich hingegen kaum. Selbst in den Naturwissenschaften fristet das Phänomen des Verstehens ein Schattendasein. Dabei kann doch derjenige, der versteht, Dinge verändern, Ursache und Wirkung erkennen, Neues erschaffen oder Bestehendes hinterfragen. Wer gut lernt, besteht am Ende die Prüfung. Doch wer versteht, kann anschließend mit seinem Wissen auch etwas anfangen.« Da Henning Beck das Verstehen für den Anfang jeder Veränderung hält, wünscht er sich, dass seine Leser*innen verstehen, was beim Verstehen passiert.
Dem Gehirn sieht man nicht an, wie es funktioniert. Auch wenn es immer wieder Behauptungen zur linken und zur rechten Gehirnhälfte gibt und welchen Einfluss die Dominanz der einen oder anderen Seite angeblich auf den Menschen und seine Persönlichkeit haben, werden solche Vorstellungen durch die Gehirnforschung nicht bestätigt. Gedanken und Erinnerungen lassen sich im Gehirn nicht eindeutig lokalisieren.
Henning Beck vergleicht das mit einem Orchester: »Stellen Sie sich vor, Sie gehen in ein Konzert. Sie sehen das Orchester vor sich sitzen. Aber niemand spielt. Wenn Sie dieses schweigende Orchester vor sich sitzen sehen, dann haben Sie keine Ahnung, welche Lieder dieses Orchester gerade gespielt hat oder als nächstes spielen könnte. Ganz genauso verhält es sich bei einem Gehirn.« Vor allem sei es nicht ausreichend, einen einzelnen Musiker zu beobachten. »Ein Gedanke ist also die Art und Weise, wie die Nervenzellen zusammenspielen. In einem Orchester gibt es einen Dirigenten, der es ermöglicht, dass die einzelnen Bestandteile eines Orchesters zur richtigen Zeit in der richtigen Intensität miteinander wechselwirken. Ohne Dirigenten wüssten die Musizierenden nicht, wann genau welcher Einsatz erfolgen müsste.«
Doch auch der beste Dirigent kann nicht das Üben ersetzen. So wie im Orchester zunächst die einzelnen Musiker*innen ihre Stücke üben müssen und anschließend das Orchester mit dem Dirigenten das Zusammenspiel probt, findet Lernen auf der Ebene der einzelnen Nervenszellen und ganzer Nervennetzwerke statt. Beides ist notwendig, um auf Erinnerungen zurückzugreifen.