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Unsicherheit

»Sich verwirrt zu fühlen, ist der Anfang des Wissens«, schrieb der Dichter Khalil Gibran. Das klingt ermutigend, und doch gilt Verwirrung eher als etwas Unerwünschtes, das möglichst schnell beendet werden sollte, sofern es sich nicht vermeiden lässt.

Der Neurologe Volker Busch spricht von einer »Ungewissheitsintoleranz« und vergleicht die mentale Reaktion auf Unklarheit mit körperlichen Allergien und Unverträglichkeiten. »Entsprechend zeigten kernspintomografische Studien des Gehirns eine erhöhte elektrische Aktivität in der Insula, die für körperliche Missempfindungen verantwortlich ist. Menschen mit ausgeprägter Ungewissheitsintoleranz sind rasch irritierbar bei jedweder Form von Störung oder Planänderung. Sie können nicht gut improvisieren oder sich einfach im Leben treiben lassen und brauchen stattdessen die ständige Rückversicherung, dass der eingeschlagene Weg der richtige ist.«

Eine kanadische Studie aus dem Jahr 2019, also vor der Corona-Pandemie und vor dem Ukraine-Krieg, maß eine Zunahme der Ungewissheitsintoleranz in der Bevölkerung. »Dieser Befund mag zunächst erstaunen, denn in den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts haben sich die Möglichkeiten, ein verlässliches und planbares Leben zu führen, für die meisten Menschen verbessert. Aber die Zunahme objektiver Sicherheit war noch nie ein guter Gradmesser für die gefühlte Sicherheit.«

Gewissheit suchten Menschen früher vor allem in der Religion und seit der Aufklärung in den Wissenschaften. »Im digitalen Zeitalter können wir Gewissheiten durch verschiedenste Technologien bis auf die unterste Mikroebene unseres Lebens herstellen, seien es Tagesabläufe, Reiseplanungen, Echtzeitbörsenwerte, Wetterdaten und sekündlich aktualisierte Followerzahlen unserer Social-Media-Accounts.«

Fitnesstracker messen den Schlaf und die Herzfrequenz. Doch diese erlauben keine Prognose für die Herzgesundheit. »Je intensiver Menschen nach Gewissheit jagen, desto stärker wird ihr Verlangen danach. Mit zunehmender Informationssuche steigt aber nicht das Sicherheitsgefühl, sondern die Erkenntnis, dass letztlich doch nichts sicher ist. In Studien wurden Personen, die in gesundheitlichen Aspekten zu einer erhöhten Ungewissheitsintoleranz neigten, mit zunehmender Suche nach medizinischen Informationen letztlich immer unsicherer.«

Anders als der Arzt Volker Busch interessierte sich der Soziologe Theodor W. Adorno eher für die politischen Aspekte. Er beschäftigte sich in seinen »Studien zum autoritären Charakter« mit den Reaktionen auf Mehrdeutigkeit oder Unsicherheit. Dabei handele es sich um eine »Ambiguitätstoleranz«: Wer in starren Kategorien denkt, neige dazu, komplexe Situationen zu vereinfachen und Sicherheit in Ideologien, klaren Regeln und bei starken Autoritäten zu suchen.

Eine geringe Toleranz gegenüber Ungewissheit hänge mit autoritären Einstellungen, Vorurteilen und dogmatischem Denken zusammen. Für Adorno war die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit auszuhalten, ein Merkmal von mündigem Denken. Wer Widersprüche erträgt und sich nicht vorschnell auf einfache Antworten einlässt, bleibe offen für Reflexion, Selbstkritik und Veränderung und entziehe sich damit autoritären Denkstrukturen.

»Es gibt keine Sicherheit«, sagte Khalil Gibrans Kollege Anton Tschechow, » nur verschiedene Grade der Unsicherheit.«